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Vorüberlegungen zur Darstellung des Arbeitersports im Deutschen Sportmuseum
von Diethelm Blecking

TEIL 2
Zwischen Konflikt und Integration: Die Arbeitersportbewegung im Kaiserreich

Nach einem Wort von Hajo Bernett verstanden sich "die sozialistischen Arbeitersportler [ ... ] bis zum Ersten Weltkrieg als Turner". Der Arbeitersport hatte dieselben historischen Wurzeln wie die bürgerliche Deutsche Turnerschaft (DT). Der Differenzierungsprozess in verschiedene Lager vollzog sich vor dem Hintergrund eines einschneidenden ökonomischen, sozialen und politischen Wandels, der im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnend, Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts zu einem ersten Abschluss kam. Seine Parameter waren Industrialisierung, Nationalbewegung und Herausbildung der Klassengesellschaft mit dem politischen Überbau des wilhelminischen Obrigkeitsstaates.

Strukturelement I: Übergeordnete historische Strukturen

Industrialisierung
Nationalbewegung u. deutsche Einigung: Wandel vom linken zum rechten Nationalismus
Klassenbildung
Wilhelminischer Obrigkeitsstaat: das Herrschaftssystem der negativen Integration

Bedeutend für die eigenständige politische Entwicklung der Arbeiterschaft wurde die Bewegung des deutschen Liberalismus nach rechts und die Herrschaftstechnik der negativen Integration, die "Reichsfeinde" gegen "Reichsfreunde" ausspielte und die Arbeiter auf eine Gettosituation verwies.

Die im Strukturelement I aufgezeigte Entwicklung beschrieb einen Prozess gesellschaftlicher Differenzierung, der auf mehreren Ebenen zu Organisationsbildungen führte.

Strukturelement II: Der Weg zur eigenen Organisation

Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie
Die Entstehung von sozialistischen Arbeiterorganisationen (1863/75)
Die Turnabteilungen der Arbeiterbildungsvereine
Sozialistengesetz (1878-1890) und Deutsche Turnerschaft (DT)
Gründung des Arbeiter-Turnerbundes (ATB) 1892/93

Die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) markierte die Trennung der politisch organisierten Arbeiterschaft vom Liberalismus und setzte den Schlusspunkt unter einen Prozess, der schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen hatte.

In der DT waren bereits zahlreiche Arbeiter Mitglieder, aber auch die Arbeiterbildungsvereine besaßen Turnabteilungen. Als im Jahre 1878 das Sozialistengesetz erlassen wurde, machten die Führer der DT Front gegen Anhänger der Sozialdemokratie in ihren Reihen, deren Mitglieder sich jetzt bedeckt halten mussten oder in "unpolitischen" Arbeitervereinen Zuflucht suchten.

Beim Fall des Sozialistengesetzes stand jedenfalls bereits ein ansehnliches "soziologisches" Potential für die Gründung des Arbeiter- Turnerbundes bereit. Die Gründungsversammlung, die am 21./22. Mai (Pfingsten) 1893 in Gera stattfand, symbolisierte den durchschrittenen Weg dadurch, dass der Saal durch die Büsten von Jahn und Lassalle geschmückt war. Die beiden tragischen Protagonisten des Turnens bzw. der Arbeiterbewegung waren umrahmt von Losungen aus der französischen Revolution. Aus diesen Überlieferungen speiste sich dann auch die auf zahlreichen Postkarten überlieferte Symbolik der Bewegung, die Ausstellungsmachern eine reiche Fundgrube bietet.

Die Herausbildung eigener Organisationen war eine Tendenz, die zum Ende des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich umfassend war. Klammert man die seit den 80er Jahren entstehenden Sportvereine aus, so entwickelten sich neben proletarischen Turnvereinen in Deutschland auch ethnisch-nationale Vereine, die die Frontstellung DT - ATB etwas relativieren.

Strukturelement III: Organisatorische Differenzierung des Turnens im 19. Jahrhundert

Deutsche Turnerschaft
Arbeiter-Turnerbund
Slawische Sokolbewegung
Jüdische Turnvereine

Die Entwicklung des Arbeiter-Turnerbundes und anderer Arbeitersportorganisationen vollzog sich vor dem Hintergrund der stetigen Verbesserung der sozialökonomischen Bedingungen, unter denen die Arbeiterschaft existierte. Ein gerade für die Entfaltung einer Freizeitorganisation bedeutendes Indiz war die Verkürzung der Arbeitszeit.

Tabelle 1: Tägliche Arbeitszeit
in Handwerk und Industrie im 19. Jahrhundert

  1800 - 1820  10 - 13 Stunden 
1820 - 184011 - 15 Stunden
1840 - 186012 - 16 Stunden
1860 - 187012 - 14 Stunden
1870 - 189011 - 13 Stunden
1890 - 191010 - 11 Stunden
1910 - 191410 Stunden
     

Tabelle 2: Nominal- und Realeinkommen
der Arbeiter und Gesellen in Industrie und Handwerk.
Deutschland 1880-1913

 

Nominal-
einkommen
in Mark

Realeinkommen
absolut
Index (1913=100)

1880545    58   
1890650 73 
1900784 87 
19131083 100 

Aber auch die Lohnindizes wiesen auf eine Verbesserung der Lage hin.

Die Entwicklung der Arbeitersportbewegung bis zum Ersten Weltkrieg soll im folgenden auf drei Ebenen vorgestellt werden: organisatorisch, turnerisch/sportlich und politisch.

Strukturelement IV: Organisatorische Entwicklung bis 1914

Die Gründung von weiteren Verbänden und Organisationen
(Arbeiterradfahrer 1896, Naturfreunde 1895, Arbeitersamariter 1909, Arbeiter-Athleten 1906, Freie Segler 1901, Arbeiterschach 1912, Arbeiter-Schwimmer 1897, Freie Ruderer 1909, Freie Kegler 1912)

Die Zentralkommission für (Arbeiter-) Sport und Körperpflege 1912
Die regionale Entwicklung
Internationale Beziehungen

Bis zum Ersten Weltkrieg wurden zahlreiche Arbeitersportverbände gegründet, die seit 1912 - zum Teil in der Zentralkommission für (Arbeiter-) Sport und Körperpflege zusammengefasst waren. Die ca. 400.000 Mitglieder der Arbeitersportverbände waren allerdings regional unterschiedlich verteilt. Auch die einzelnen Verbände verfügten über regionale Schwerpunkte.

Während zum ATB auch die österreichischen Turner gehörten, wurde der erste Versuch zur Gründung einer internationalen Organisation der Arbeitersportler parallel zur 2. Sozialistischen Internationale durch den Ausbruch des Weltkrieges zunichte gemacht.

Strukturelement V: Turnerische/Sportliche Konzeptionen der Arbeitersportbewegung

Die Preis- und Wettturndebatte
Moderne Körperkultur: Jahn und die Griechen

Von den Funktionären des Arbeitersports wurde von vornherein Stellung gegenüber dem modernen Sport - z.B. auch dem Fußball bezogen und ein Kurs gefahren, der Preis- und Wettturnverbote beinhaltete, aber von der Basis ständig konterkariert wurde. In dieser Frontstellung gegenüber dem Sport unterschied man sich jedoch kaum vom bürgerlichen Turnen: "Die Arbeiterturner hatten ursprünglich nichts anderes im Sinn als die sozialistische Anverwandlung des überlieferten deutschen Turnens".

In der Beilage zur Arbeiter-Turnzeitung (ATZ), die den ehrgeizigen Titel "Moderne Körperkultur" trug, wurde dann vor 1914 eine Öffnung zum Sport, eine Synthese von Jahnscher Tradition und griechischer, ideal interpretierter Überlieferung gesucht.

Insgesamt lässt sich im Kaiserreich aber weder ein eigenes Turn- bzw. Sportkonzept noch eine originäre Praxis identifizieren. Versuche auf diesen Feldern blieben der Entwicklung in der Weimarer Republik vorbehalten.

Die eigentlichen Konfliktlinien mit der dominierenden politischen Kultur begannen dort, wo der Arbeitersport als Teil der sozialdemokratischen Sub- bzw. Gegenkultur wirkte und in Domänen des Obrigkeits- und Klassenstaates, wie z.B. die Erziehung der Jugend eindrang.

Strukturelement VI: Konfliktfelder

Materielle Probleme
Arbeitersport, SPD und Gewerkschaft
Frontstellung gegenüber der DT
Jugendarbeit
Obrigkeitsstaatliche Repression

Zuerst allerdings wäre zu verdeutlichen, was es hieß, einer politisch ausgegrenzten, negativ integrierten Gruppierung des Klassenstaates anzugehören. Die ATZ bilanzierte dieses Problem im Jahr 1899 wie folgt:
"Nach der letzten Statistik waren von 285 Vereinen nur 2 im Besitz einer eigenen Turnhalle, 10 Vereinen war es vergönnt, in städtischen oder Schulturnhallen zu turnen und der gesamte Rest war genötigt, in anderen Lokalen Unterkommen zu suchen. Was für fragwürdige Lokale dies oft sind, darüber könnten wir aus eigener Erfahrung ein ganzes Register zum Besten geben, Ställe, Schuppen, Wohnstuben und last but not least auch Eiskeller dienen als Turnstätten".

Verschärft wurden die materiellen Probleme dadurch, dass das Verhältnis zu SPD und Gewerkschaften ungeklärt war. Die Arbeitersportler wurden als Angehörige von "Klim-Bim-Vereinen" denunziert, die vom Klassenkampf ablenkten. Bis zum Nürnberger Parteitag im Jahre 1908 nahm kein Parteitag der SPD den Arbeitersport überhaupt zur Kenntnis.

Dies war um so bitterer für die Bewegung, als sie von ihren Gegnern im Lager der bürgerlichen Turner und von der Obrigkeit insbesondere in Sachsen und Preußen als Vorfeldorganisation der SPD wahrgenommen und bekämpft wurde. Ländervereinsgesetze und dann das Reichsvereinsgesetz des Jahres 1908 wurden gegen die Jugendarbeit im Arbeitersport mobilisiert. Das Geflecht von Denunziationen, Diskriminierungen und Repressionen ist so häufig dokumentiert worden, dass wir hier darauf verzichten können. Im Sinne einer politischen Pädagogik sollte jedoch daraufhingewiesen werden, dass dieser Zusammenhang auch für die Vereine der ethnischen Minderheiten galt und in der Tat einen Reflex des Herrschaftssystems der negativen Integration darstellte.

Die massive Repression auf der einen Seite, die materielle Besserstellung durch das langsame Entstehen eines "sozialen Netzes" mit Hilfe staatlicher Sozialversicherung und gewerkschaftlicher bzw. genossenschaftlicher Unterstützungsformen auf der anderen Seite, bildete sich beim Arbeitersport durch forcierten Ausbau der Organisation bei gleichzeitiger Tendenz zur Anpassung ab.

Strukturelernent VII: Anpassungstendenzen vor 1914 und der Erste Weltkrieg

Zuckerbrot und Peitsche (Sozialversicherung & Repression)
Fehlende "alternative" Konzeption
Schwergewicht der Organisation
"Burgfrieden"

Verbaler Radikalismus konnte ein fehlendes Konzept für eine andere Praxis nicht ersetzen. Zahlreichen Arbeitersportlern erschien der Ausbau bzw. die Bewahrung der Organisation bereits als Ziel, Neutralisierungstendenzen machten sich bereits vor 1914 bemerkbar. Die Politik der Mehrheit der SPD mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 und das Einschwenken auf den "Burgfrieden" bestimmte auch die Haltung der meisten Arbeitersportler zum Krieg, die sich allerdings wohltuend von der nationalen Hysterie des bürgerlichen Lagers abhob.

Als Bilanz vor 1914 blieben die unbestreitbaren organisatorischen Erfolge und die Zugehörigkeit zu einer politischen Kultur, die unbeirrbar auf Republik und Demokratie als Verfassungsziel auch unter den Bedingungen des autoritären, jetzt zur Weltmacht greifenden Staates gesetzt hatte. Ein Kapital, mit dem man hoffen konnte, unter anderen politischen Verhältnissen zu wuchern.
 

  Einleitung (1)
  Zwischen Konflikt und Integration: Die Arbeitersportbewegung im Kaiserreich (2)
  Arbeitersport im Spannungsfeld von Solidargemeinschaft und Massenkultur (3)
  Die Gegenwart des Arbeitersports (4)

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