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"Musik um uns", Lehrbuch für 11.-13. Schuljahr
I N H A L T
  Der Musikhörer
Psychophysik des Hörens   physiologischer Hörvorgang   psychophysische Leistungen  
       Hörsituation
drei unterschiedliche Hörsituationen   Faktoren   Medien   Radiomusik   Fernsehkonzert   Schallplatten und Tonbänder  
 
Musikalische Sozialisation
Kommunikationsprozess   Sozialisation   Prägung   Erziehung  
Funktion und Wirkung
Bedürfnisse   Entkonzentration   Regeneration   anregende Wirkung   Regression   Begegnung   Symbol  
Hörverhalten
zwei Erscheinungsformen   Faktoren  
Hörtypologie
Experte   gute Zuhörer   Bildungskonsument   emotionaler Zuhörer   Ressentimenthörer   Jazz-Experte   Unterhaltungshörer   Unmusikalischer   drei Textbeispiele   Hesse   Mann   Wagner   strukturorientierter Hörer   assoziierender Hörer   empfindungsbezogener Hörer  
Beschaffenheit der Musik
Ton   Melodik   Rhythmik   Harmonik   Klangfarbe   Formen  
Die der Musik angemessene Hörweise
Verhältnis von Melodik und Harmonik  
Hören und Verstehen
Zeichensystem   geschichtlich-gesellschaftliche Seite   Platon   Luther   Kircher   Rousseau   Wackenroder   Hanslick   von Hausegger   Schering  
 

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aus: "Musik um uns", Lehrbuch für 11.-13. Schuljahr, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1983, S. 150 ff

Der Musikhörer

Zu keiner Zeit ist in der Weit soviel Musik gehört worden wie heutzutage. Neben Orchestern, Chören und Ensembles aller Art, Einzelspielern und Sängern, seien sie professionell oder nicht, sind es vor allem Rundfunk, Schallplatte und Fernsehen, die Musik im weitesten Sinne allen Schichten der Bevölkerung zugänglich machen. Zu der Musik, die der Hörer aus eigener Initiative hört (Besuch eines Konzerts, Einschalten des Radioapparats, Auflegen einer Schallplatte), tritt noch jene andere, die z. B. im Kaufhaus, im Restaurant oder am Arbeitsplatz ohne sein Zutun an sein Ohr gelangt. Musik ist zu einer allgegenwärtigen Erscheinung geworden, die um ihrer vielfältigen Wirkungen willen vom Hörer gesucht, oder ihm von anderen zugedacht wird. Die Wirkungen aber sind verschieden je nach den individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, mit denen der Hörer ausgestattet ist.

Psychophysik des Hörens
Grundlage eines Hörerlebnisses ist zunächst der physiologische Hörvorgang. Durch den Gehörgang gelangen die Schallschwingungen an das Trommelfell, das das Außen- vom Mittelohr trennt.
Im Mittelohr werden die Bewegungen des Trommelfells durch den Hebelmechanismus der Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel etwa auf das 20fache vergrößert und auf eine Membran, das »ovale Fenster«, übertragen.
Hier beginnt das mit einer Flüssigkeit, der "Perilymphe" gefüllte, spiralenförmig gewundene Innenohr, die Schnecke. Sie ist in ihrer ganzen Länge (beim Erwachsenen etwa 3,5 cm) durch die Basilarmembran in zwei Teile geteilt, die ihrerseits am äußersten Ende der Schnecke durch ein kleines Loch, das "Helicotrema", miteinander Verbindung haben. Etwa 30000 Haarzellen, auch "Hörhaare" genannt, das »Cortische Organ«, sind über die Basilarmembran verteilt. Die am ovalen Fenster eintreffende Schwingungen breiten sich durch die Perilymphe innerhalb des Schneckenkanals aus und versetzen die Basilarmembran in Bewegung. Für jede Frequenz findet sich auf der Basilarmembran ein Bereich maximaler Empfindlichkeit: für hohe Töne näher am ovalen Fenster, für tiefere Töne näher am inneren Ende der Schnecke. Die Haarzellen sprechen auf die Bewegungen der Membran an und geben elektrische Signale an die mit ihnen verbundenen Nervenzellen. Über den Hörnerv werden die Signale ins Gehirn transportiert und dort an verschiedenen Stellen als Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe entschlüsselt.

Seit über 100 Jahren ist bekannt, dass die beiden "Hemisphären" des Gehirns arbeitsteilig zusammenwirken. Während die linke Seite Sitz rationaler und analytischer Funktionen sowie des Sprachvermögens ist, werden der rechten Seite ganzheitliche und synthetische Merkmale, räumliche Integration und die Wahrnehmung von Musik zugeschrieben. Die Integration zeitlich aufeinanderfolgender Klangereignisse zu einem ganzheitlichen Hörbild ist also durch die spezifische Funktion der in der rechten Hemisphäre liegenden Gehirnteile gegeben. Andererseits sind aber die beiden Hemisphären durch den "Balken" miteinander verbunden, so dass einseitige Zuweisungen der Ratio zur linken und der Emotio zur rechten Gehirnhälfte durch die komplementäre Zusammenarbeit beider Hemisphären aufgehoben werden.

Bemerkenswert ist, dass die psychophysischen Leistungen des Gehörs bei der Wahrnehmung von Musik nicht mit den physikalischen Vorgängen, durch die sie ausgelöst werden, gleichgesetzt werden können. Das Ohr vollbringt Eigenleistungen, für die es keine physikalischen Anhaltspunkte gibt.

  1. Beispiel: Das Ohr vernimmt unter bestimmten Umständen bei der Überlagerung von zwei Frequenzen einen "Kombinationston", der der Differenz der beiden Frequenzen entspricht.

    Beim Orgelbau macht man sich diese Erscheinung zunutze, indem man, etwa aus Platzgründen, eine lange Pfeife durch zwei kürzere ersetzt. So produziert eine Quinte im Ohr des Zuhörers deutlich die untere Oktave des Intervallgrundtons. An einer Orgel können die Kombinationstöne am besten dargestellt werden, u. U. auch mit zwei Blockflöten oder zwei Violinen.

  2. Beispiel: Das Ohr nimmt Tonhöhen wahr, die gar nicht gespielt werden. Auch diese Erscheinung kann an einer Orgel demonstriert werden. Man spiele einen Cantus firmus mit einer Soloregistrierung (8', 4', 2 2/3', 2', 1 3/5', 11/3', l') und begleite auf einem anderen Manual mit Grundregistern (8', 4'). Dann wiederhole man das Beispiel, indem man auf dem Solomanual nacheinander 8', 4', 2' und  l' wegnimmt. Der Hörer wird zwar eine Änderung der Klangfarbe wahrnehmen, wird aber, obwohl durch den Wechsel der Registrierung die ursprünglichen Tonhöhen samt ihren Oktaven verschwunden sind, diese in seinem Gehör rekonstruieren.
Das Gehör verhält sich also beim Musikhören nicht passiv empfangend, sondern trägt eigene Leistungen bei. Diese Leistungen sind vorbestimmt durch musikalische Erfahrungen, Erlebnisse und Gewohnheiten, die sich zu bestimmten Hörerwartungen verdichten, so dass Musikhören bereits im scheinbar naturwissenschaftlichen Vorfeld durch Elemente unserer Kultur geprägt ist.

Dass Musik auf die geistig-seelische und sogar auf die körperliche Verfassung des Hörers einzuwirken vermag, macht man sich in der Musiktherapie zunutze. So ist z. B. erwiesen, dass eine erregende Musik den Puls beschleunigt, den Blutdruck erhöht sowie Amplitude und Frequenz der Atmung ansteigen lässt.

Die Tatsache, dass wir bei wiederholtem Hören eines Werkes dieses u. U. völlig verschieden aufnehmen, hängt nicht unbedingt mit Unterschieden der Interpretation zusammen, sondern damit, dass Musikhören ein komplexer Vorgang ist, in den nicht nur das Werk, sondern auch die momentane und dauernde Disposition des Hörers einfließen.

Musikalische Sozialisation

Wie aus der Schilderung der psychophysischen Vorgänge deutlich wurde, ist Musikhören ein Kommunikationsprozess, bei dem der Hörer seine persönliche Veranlagung mit einbringt. Dazu gehören zunächst die Anlagen, die der Hörer schon bei der Geburt mitbekommen hat, die entweder selbst reifen, oder sich je nach den Umweltbedingungen mehr oder weniger entwickelt haben.

Eine große Rolle spielt die musikalische Ausbildung, also die durch Lernen entwickelte Fähigkeit, musikalische Vorgänge als sinnvoll aufzunehmen, zu differenzieren und wesentliche Merkmale begrifflich zu erfassen. Kenntnisse und Fertigkeiten, vor allem aber bisherige musikalische Erfahrungen mit ihren Erlebnissen steuern die musikalische Einstellung eines Menschen und damit die Art des Musikhörens.

Über diese individuellen Gegebenheiten hinaus sind soziokulturelle Beziehungen für das Hörverhalten bestimmend, z. B. die Wertvorstellungen, die der einzelne mit anderen Menschen, denen er sich gruppenmäßig zugehörig fühlt, gemeinsam hat, oder die emotionalen Verhaltensweisen, Reaktionen und Bedürfnisse, die er zum Teil schon in frühester Kindheit erworben hat.

Wichtig für den Hörvorgang sind aber auch die momentane körperliche Frische oder Ermüdung, die geistige Verfassung, die Stimmung und die aus allem Genannten resultierende Bereitschaft und Hörerwartung.

"Sozialisation" heißt der Oberbegriff für alle Vorgänge, die die Persönlichkeitsstruktur eines Heranwachsenden konstituieren, indem sie ihn mit den Verhaltensmodellen ausstatten, die es ihm ermöglichen, sich in der Gesellschaft mit ihren Normen und Wertvorstellungen zurechtzufinden.

Die musikalische Sozialisation, um die es hier geht, beginnt damit, dass das Kind durch den täglichen Umgang in die jeweilige musikalische Umwelt der Familie hineinwächst. Es hört nicht nur die Musik, die dort erklingt, sei es aus Instrumenten oder aus dem Lautsprecher, es vernimmt auch die Urteile über die verschiedenen Musikarten: Zustimmung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit. Sein eigenes musikalisches Verhalten wird dadurch geprägt. Aus der Vielzahl der ursprünglich vorhandenen Reaktionsmöglichkeiten scheiden einige aus, andere werden verstärkt; es bilden sich Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, Meinungen und Einstellungen.

Diese Prägung durch die Familie wird oft durchkreuzt, wenn sich etwa ab der Pubertätszeit Einflüsse von Gruppen Gleichaltriger geltend machen (»Peer groups«). Freunde, Jugendgruppen, Klassen- und Schulkameraden stehen mit der von ihnen favorisierten Musik und mit ihren Urteilen häufig im Gegensatz zur musikalischen Umwelt des Elternhauses. Dies kann soweit führen, dass sich daraus eine oppositionelle Subkultur entwickelt, nicht nur mit eigener Musik, sondern auch mit eigenen sprachlichen, modischen oder gestischen Äußerungen. Die Zugehörigkeit des Jugendlichen zur Familie und zur Gruppe Gleichaltriger führt zu Rollenproblemen. Er entscheidet sich für eine der beiden Seiten oder versucht, in beiden Positionen zu bestehen. Es gibt genug Beispiele dafür, dass Jugendliche in der Gruppe Popmusik hören, diskutieren oder spielen und zu Hause bzw. mit anderen Gruppen klassische Musik pflegen.

Zur Sozialisation im weitesten Sinne wird auch die Erziehung gerechnet, also die gezielte Organisation und Beeinflussung des Lernens in der Schule. Nicht selten sehen die Jugendlichen in den von der Schule vermittelten Inhalten Gegensätze zu den in der Gruppe vertretenen Prinzipien. Da hier vor allem von der musikalischen Sozialisation die Rede sein soll, sei darauf hingewiesen, dass die heutigen Lehrpläne keine Musikart ausschließen, sondern Gelegenheit geben, sich mit allen Richtungen der Musik auseinander zu setzen. Das kritische, verstandesmäßige Durchleuchten musikalischer Erscheinungen wird aber oft zugunsten einer emotional gefärbten Hörweise abgelehnt, welche Musik auch immer gehört wird.

Bedeutungsvoll für die musikalische Sozialisation sind musikalische Aktivitäten, wie Instrumentalunterricht, Mitwirkung in einem Chor, in einem Orchester, einer Spielgruppe, einer Band. Amerikanische Untersuchungen haben ergeben, dass derlei Aktivitäten sich in folgender Rangordnung auf die Ergebnisse von Hörtests, also auf die Qualität des Hörens auswirken:
1. Band, Orchester und Chor, 2. Orchester und Chor, 3. Band und Chor, 4. Chor, 5. Band und Orchester, 6. Band, 7. Klavierunterricht.
Daraus geht hervor, dass insbesondere die Kombination instrumentaler und vokaler Aktivitäten für das Hörvermögen förderlich ist.

Bedeutsamste Quelle für musikalische Erfahrungen und damit auch für die musikalische Sozialisation sind die akustischen Massenmedien. Radio, Schallplatte, Tonband und Fernseher haben zu einer weltweiten Verbreitung der Musik geführt, so dass über Geschichte und Stile hinweg der Klang unseres melodisch-harmonisch-rhythmischen Tonsystems und der Instrumente bereits jedem Kind vertraut ist. Da bedeutend mehr Musik über den Lautsprecher als live gehört wird, ist der Lautsprecherklang für viele der eigentliche vertraute Klang geworden. Den Vorzügen, die der sinnvolle Gebrauch der Medien bietet, stehen andererseits bei Missbrauch Nachteile gegenüber. Ein Hörer, dem das Einschalten des Apparats zu einer zwanghaften Gewohnheit geworden ist, der ohne Dauerberieselung gar nicht mehr auskommt, läuft Gefahr, in kritiklose Passivität und Zerstreutheit zu verfallen. Sein Privatleben wird zunehmend von außen bestimmt und Stille ist ihm unangenehm.

Die musikalische Sozialisation des Hörers ergibt sich also aus den musikalischen Erfahrungen in der Familie, mit Gleichaltrigen, in der Schule, bei besonderen musikalischen Aktivitäten und durch die Massenmedien.

Diese Erfahrungen, samt den daraus resultierenden Einstellungen und Werthaltungen, zusammen mit anderen Merkmalen der Persönlichkeit, wie etwa den Bedürfnissen, Gefühlen, dem Gedächtnis, den Wahrnehmungs- und Denkmustern ergeben ganz bestimmte Hördispositionen, die von Person zu Person variieren, mit denen der Hörer der Musik begegnet.

Aufgabe:
Versuchen Sie, Ihre eigene musikalische Sozialisation zu rekonstruieren, indem Sie die Entwicklung Ihres musikalischen Geschmacks in Zusammenhang bringen mit den jeweiligen gesellschaftlich vermittelten Musikkontakten.

Hörverhalten

Musik bietet sich dem Betrachter in zwei Erscheinungsformen dar: als in Noten vorliegendes fertiges, abgeschlossenes Werk und als Prozess während der Aufführung, als Folge von Aktionen und Reaktionen, die in ständigem Wechsel erfolgen. Dabei treffen aufeinander: Musik mit einer bestimmten Beschaffenheit, die im einzelnen beschrieben werden kann und die seitens des Hörers eine ihrer Beschaffenheit adäquate Hörweise erfordert, und der Hörer mit seiner durch die musikalische Sozialisation geformten Hördisposition in einer konkreten Hörsituation. Auf Grund dieser Situation und der Einstellung des Hörers hat die Musik für ihn eine bestimmte Funktion und eine Wirkung.

Die Faktoren, auf die in diesem Zusammenhang eingegangen werden soll, sind die Beschaffenheit der Musik, die ihr angemessene Hörweise, die Hörsituation sowie Funktion und Wirkung der Musik.

Beschaffenheit der Musik

Der einzelne Ton wird bestimmt durch die elementaren Parameter Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe. Bei komplexer Musik greifen oft besser die bekannten Kriterien Melodik, Rhythmik, Harmonik, Klangfarbe, Form, Gattung und Stil. Da es in diesem Zusammenhang nicht um Analysen von Kompositionen geht, sondern um Wahrnehmungsgestalten, sollen die Kategorien musikalischer Formbildung unter dem Gesichtspunkt der Hörbarkeit aufgeführt werden.

Melodik stellt sich dar als Auf und Ab von Tönen in einem bestimmten Umfang. Man kann Melodieprofile mit einer im Ganzen oder in Abschnitten zu beobachtenden auf- oder abwärts gerichteten Tendenz oder typischen Kurvenkrümmungen erkennen. Die Melodieführung kann im einzelnen mehr in Richtung sangbar-schrittweise oder schroff-sprunghaft gehen.

Wenn wir unter Rhythmik die Gliederung der Zeit durch Dauern und Betonungen verstehen, gehört hierher der Bereich der Notenwerte und Notenwertgruppen, des Metrums, der Takt- und Betonungsverhältnisse und des Tempos. Unser Herzschlag wirkt als Regulativ und lässt uns Musik als langsam oder schnell empfinden. In mehrstimmiger Musik unterscheiden wir gleichlaufende, komplementäre und Konfliktrhythmen. Zur Rhythmik ist in der neuesten Musik auch die Impulsdichte pro Takt oder Zeiteinheit zu rechnen. Ihre Beachtung ergibt Einheiten mit hoher, niedriger, ansteigender oder zurückgehender Impulsdichte.

Beurteilungskriterien der Harmonik sind Klangspannung, Klangfülle und -breite, Richtung und Entfernung von Akkordschritten. Beschreibung von Akkordfolgen: In traditioneller Musik nach dem Prinzip der Kadenz, in neuerer Musik als freitonales Spannungsgefälle oder als Materialkonstellationen.

Zur Klangfarbe gehört die gängige Einteilung der menschlichen Stimmlagen wie auch der Instrumente nach Gruppen homogener oder heterogener Klangfarben, wobei innerhalb der Gruppen die individuellen Farben der einzelnen Instrumente oder Stimmen zu unterscheiden sind. Je nach der Schwingungsstruktur wirken die Klangfarben hell, dunkel, rund, scharf oder hohl. Im Zusammenspiel ergibt sich aus der Menge der beteiligten Instrumente oder Stimmen die relative Klangdichte.

Musikalische Formen nehmen wir hörend als Folge von Abschnitten wahr. Mit Hilfe des Gedächtnisses und der Kriterien für Melodik, Rhythmik, Harmonik und Klangfarbe hören wir die Abschnitte als gleich, ähnlich oder verschieden. In der gestalthaften Zusammenschau der Abschnitte versuchen wir, sinnvolle Reihenfolgen bzw. die bekannten Formschemata zu erkennen.

Über die komplexeren Begriffe Gattung und Stil kann an anderer Stelle des Buches nachgelesen werden.

Die der Musik angemessene Hörweise

Musikgeschichte wird im allgemeinen verstanden als die Beschreibung der Entwicklung musikalischer Gattungen und Formen. Das Schwergewicht liegt auf den stilbestimmenden Höhepunkten der Epochen und auf den Impulsen, die bedeutende Komponisten der Entwicklung gegeben haben. In den dazwischenliegenden Zeiten werden diese Höhepunkte vorbereitet oder sie klingen aus. Aus Berichten über die Resonanz der Musik beim jeweiligen Zuhörerkreis, aus der Zustimmung oder Ablehnung wird deutlich, dass Schaffen und Hören in einer intensiven Wechselwirkung stehen. Kreative Komponisten, die häufig in Neuland vorstoßen, machen es ihren Zuhörern schwerer als andere, die in ihrem Stil verbleiben und vielleicht sogar Züge des Epigonentums tragen. Ob ein Komponist für eine Masse von Zuhörern schreibt, oder für eine Minderheit, er wird danach streben, dass seine Musik vom Adressatenkreis, für den sie bestimmt ist, aufgenommen wird.

Kritik oder Ablehnung einer Komposition sind oft darauf zurückzuführen, dass die Hörweise des Publikums der Komposition nicht angemessen ist. Die Kriterien des Musikhörens ergeben sich, wie wir sahen, aus der musikalischen Sozialisation; sie müssen sich aber auch nach der Beschaffenheit der Musik, die wir hören, richten.

Die polnische Musikwissenschaftlerin Zofia Lissa sieht einen entscheidenden Ansatzpunkt des Hörens im jeweiligen Verhältnis von Melodik und Harmonik. Sie schreibt in einem Aufsatz (»Zur historischen Veränderlichkeit der musikalischen Apperzeption«, 1961):
Die Generation, der ich angehöre, hat ihre musikalische Vorstellung, ihre Grundkategorien der musikalischen Apperzeption an der funktionellen Musik geformt, und zwar in dem Stadium, in dem die funktionelle Musik maximal entwickelt, erweitert war und sich bereits entschieden ihrer Zersetzung zuneigte. Nichtsdestoweniger bildete die Funktionalität das ordnende Hauptprinzip unserer musikalischen Aufnahme. Entscheidend dafür war unsere musikalische Erfahrung, die a) dem Repertoire, das uns das Konzertleben lieferte, entsprang, b) dem Repertoire, welches die Grundlage des Unterrichts im Konservatorium bildete... Die Melodie nehmen wir wahr als klangliches Geschehen, als einen Ablauf mit ganz bestimmter Gestaltqualität, als eine zeitlich in der klanglichen Substanz verwirklichte Bewegung. Was für den Charakter dieser Bewegung entscheidend ist, das sind nicht nur bestimmte Tonhöhen (die gleiche melodische Bewegung kann sich in einem im Hinblick auf die Tonhöhe völlig verschiedenen Klangmaterial verwirklichen, sofern sie in bezug auf die Intervallik, die rhythmische Gestaltung, den Charakter der Bewegung die gleiche ist), sondern die einmal festgelegte Intervallik zwischen den einzelnen Tonhöhen. Der Begriff der Intervallik enthält zweierlei Momente: a) die Wahrnehmung der Distanz zwischen zwei Tonhöhen und b) die Wahrnehmung der Verschmelzung des Intervalls, also seines harmonischen Inhalts. Darin verbirgt sich jedoch noch mehr, nämlich das Gefühl für die Zugehörigkeit des jeweiligen Intervalls zu einer bestimmten harmonischen Funktion. Dieses verbindet eine großere Zahl von Intervallen, aus denen sich die jeweilige melodische Phrase zusammensetzt, zu einem höher stehenden Ganzen, und gestattet uns, diese nicht nur als eine Summe von Intervallen, sondern eben als ein musikalisch sinnvolles Ganzes aufzufassen. Diesen »Sinn« verleiht der Melodik eben das Auffassen ihres harmonischen Inhalts; die Harmonie ist der Faktor, der den melodischen Ablauf integriert. Die Melodie ist also für den Hörer von heute eine Ganzheit mit zweierlei Inhalt: dem melodischen und dem harmonischen, welcher jedoch nicht in vertikalen Werten (Akkorden), sondern horizontal realisiert wird.
(Lissa, Zofia, Zur historischen Veränderlichkeit der musikalischen Apperzeption, VEB Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1961, S. 475-488)

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