netSCHOOL MUSIK Schulbuch

aus: "Musik um uns", Lehrbuch für 11.-13. Schuljahr, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1983, S. 150 ff (Fortsetzung)

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Hörsituation

Hören wurde wiederholt als Kommunikationsvorgang bezeichnet, in den der Hörer Merkmale seiner Persönlichkeit und seine momentane Situation einbringt. Die momentane Situation ist mit bedingt durch das Milieu, in dem sich der Hörer befindet und die Art der Darbietung der Musik. Zunächst seien drei unterschiedliche Hörsituationen geschildert, in denen Musik live erklingt.

  1. Ein international und von Platteneinspielungen bekannter Interpret gibt in einem repräsentativen städtischen Konzertsaal ein Konzert. Der Saal ist in Größe, Ausstattung und Akustik optimal für alle anfallenden Konzertsituationen eingerichtet. Ein festlich gestimmtes Publikum hat sich erwartungsvoll eingefunden. Es ist musikalisch interessiert und genießt zugleich die Selbstdarstellung und das gesellschaftliche Ereignis.

  2. Das Konzert findet in einem kleineren städtischen Saal, im Saal einer Kirchengemeinde, eines Vereins oder einer Schule statt. Das Publikum setzt sich aus einem engeren Kreis der Bevölkerung zusammen. Es sind vorwiegend Leute, die sich kennen. Aufwand und Ansprüche sind bescheidener. Auch der Interpret stammt aus dem regionalen Umkreis: ein tüchtiger Musiker, ein Student, ein Dilettant, ein Schüler.

  3. Hier wird zu Hause musiziert. Der Zuhörerkreis ist relativ klein: die Familie, Freunde, Bekannte. Familienangehöriger oder Bekannter ist auch der Interpret. Er musiziert entweder in einer Art von "Konzertsituation", wobei die übrigen ihm konzentriert zuhören, oder er spielt nebenbei, funktional in das häusliche Leben eingefügt. Die Anwesenden hören zeitweise zu und gehen im übrigen ihren Tätigkeiten nach.
Weiche Unterschiede ergeben sich bei den drei Hörsituationen im Hinblick auf folgende Faktoren: Motivation (Anstoß, der den Wunsch, Musik zu hören, auslöst), Vorbereitung und Aufwand, Hörerwartung, Aufmerksamkeit und Konzentration, Gesamteindruck, bzw. Erkennen von Details und Feinheiten, Atmosphäre, emotionale Wirkung?

Ganz anders ist die Hörsituation, wenn Musik über die Medien erklingt. Wenn wir davon ausgehen, dass die Musikarten spezifische Orte und Situationen haben, denen sie zugehören, ist bei Radiomusik zunächst eine gewisse Desorientierung zu beobachten. Wir können über die verschiedenen Sender und Programme zu allen Zeiten Marschmusik, Tanzmusik, Kirchenmusik, Musik aus Opern und Operetten, Sinfonik, Jazz, Pop und vieles andere hören, also Musikarten, von denen jede ihr bestimmtes situatives Umfeld hat. Hören wir solche Musik zu Hause, ergibt sich eine Diskrepanz ebenso zwischen dem akustischen und dem realen Raum, wie auch zwischen dem Verhalten, das diese Musikarten in dem ihnen eigentümlichen Milieu vom Hörer erwarten würden und dem Verhalten des Hörers zu Hause. Über Funktion und Wirkung von Musik wird noch zu reden sein. Es soll aber an dieser Stelle schon darauf hingewiesen werden, dass ein Satz aus einer Messe oder eine Opernarie in einen Kontext gehören, den der Hörer zu Hause, sofern er ein Gespür dafür hat, erst gedanklich rekonstruieren muss.

Musik im Radio ist an eine durch das Rahmenprogramm festgelegte Sendezeit gebunden. Der Hörer muss sich, will er ein besonderes Werk oder eine Musikart, der die ganze Sendung gewidmet ist, hören, nach dem Programm richten. Die bewusste Wahl erfordert also vom Hörer eine zeitliche Disposition, ähnlich wie der Besuch eines Konzerts.

Während im Konzertsaal die Akustik im wesentlichen durch die besonderen Verhältnisse des Raumes und den Ort des Sitzplatzes festgelegt ist, hat der Hörer am Radioapparat zunächst einmal optimale Bedingungen hinsichtlich der Ausgewogenheit des Klangs. Er hat außerdem die Möglichkeit, durch Betätigung der Lautstärkeregelung sowie der Anhebung für Höhen und Bässe den Klang zu beeinflussen. Meist geschieht dies, um Fortissimostellen abzudecken oder Pianissimostellen zu verdeutlichen. Bei genauem Hinhören ist zwar zu erkennen, dass die ursprünglichen ff- oder pp-Klangstrukturen bei nivellierter Lautstärke anders klingen als etwa ein gespieltes Mezzoforte, aber das originale Verhältnis der Lautstärkegrade, das die heutigen hochempfindlichen Mikrophone und Lautsprecher durchaus korrekt wiedergeben, geht durch Nachstellen verloren. Eingriffe in die Lautstärke wie auch in die Gewichtung der Höhen und Tiefen stehen oft im Zusammenhang mit der jeweiligen Aufmerksamkeit des Zuhörers. Hat er sich vorgenommen, möglichst genau zu hören, wird er Lautstärke und Höhen nicht zu sehr reduzieren; ist die Musik dagegen nur >background<, oder will er gar versuchen, den Klang einer über ungeheure Verstärker gehenden Popgruppe in die Wohnung zu holen, wird er manipulierend eingreifen. Im Gegensatz zum Konzert und auch zum Fernseher, von dem gleich die Rede sein soll, gewährt Musik aus dem Lautsprecher eine gewisse Bewegungsfreiheit. Der Klang erreicht den Hörer, ob er sitzt, im Raum herumgeht, oder sogar kurz den Raum verlässt. Wenn wir einmal davon absehen, dass anspruchsvolle Musik und anspruchsvolle Nebenbeschäftigung unvereinbar sind, regelt sich das Verhältnis von Musik und Nebenbeschäftigung nach dem "Figur-Grund-Modell". Je nach der Einstellung und dem Verlauf der Aufmerksamkeit wendet sich der Hörer bald mehr dem einen oder dem anderen zu. Außerdem ist nicht jede Musik dazu bestimmt, in regungsloser Versunkenheit gehört zu werden.

Das Meiste von dem, was über Musik aus dem Radioapparat gesagt wurde, trifft auch auf das Fernsehkonzert zu. Sehen wir davon ab, dass die Lautsprecher einer Stereoanlage denen der Fernseher weit überlegen sind, vermittelt der Fernseher zusätzlich zum Klang den visuellen Eindruck. Je nach Kameraführung sehen wir den Interpreten, seine Spiel- und Ausdrucksbewegungen, zum Teil in Groß- oder Detailaufnahme, wie es im Konzertsaal kaum möglich wäre. Mit der Kamera wandert unser Blick oft mehr als uns lieb ist auch über das Publikum und über Einzelheiten des Raumes hinweg. Handelt es sich um eine Studioaufnahme, stehen mehr der Interpret und das Instrument im Blickfeld. Das Visuelle kann den Höreindruck durchaus unterstützen; allzu häufige und unmotivierte Kameraschwenkungen können aber auch ablenken.

Zwischen Sehen und Hören gibt es erhebliche wahrnehmungspsychologische Unterschiede. Beim Sehen geht es darum, Simultangestalten aufzunehmen. Das Bild, auch das bewegte Bild, spricht vorwiegend den Verstand an. Beim Hören dagegen müssen Sukzessivgestalten erfasst und gegliedert werden. Sie sind durch den Ablauf in der Zeit flüchtiger und weniger objektiv; das Zuständliche steht gegenüber dem Gegenständlichen im Vordergrund: sie wenden sich daher mehr an das Gemüt.

Wie beim Radio ist auch beim Fernsehen eine große Streuung der Anteilnahme des Zuhörers denkbar. Sie reicht von dem Gefühl, Zeuge eines herausragenden Ereignisses zu sein bis zur Alltäglichkeit des gewohnten Medienkonsums.

Ganz anders sind die Hörgewohnheiten beim Hören von Schallplatten und Tonbändern. Der Hörer ist zeitlich unabhängig von Konzertterminen und Radioprogrammen. Er kann sich die Hörzeit aussuchen und wendet sich, da es sein eigener Entschluss ist, bewusster und mit bestimmten Erwartungen seinen Schallplatten oder Tonbändern zu. Meist hat er eine besondere Beziehung zu den Titeln; sie haben in seiner Vorstellung eine Funktion und er verspricht sich von ihnen eine bestimmte Wirkung. Wie beim Radio kann er Lautstärke und Klang seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen anpassen.

Funktion und Wirkung

Der Hörer wird zum Hören von Musik durch gewisse Bedürfnisse motiviert, die in engem Zusammenhang zu seiner vor allem durch die musikalische Sozialisation geprägten Persönlichkeit mit ihren relativ dauernden oder momentanen Merkmalen und zur jeweiligen Hörsituation stehen. Entsprechend diesen Bedürfnissen wird auch die Wirkung sein, ob sie nun die Bedürfnisse voll oder nur zum Teil befriedigt.

Die am häufigsten gesuchte Funktion der Musik wird durch das Begriffsfeld "Erbauung« - »Kunstgenuss« -»Unterhaltung« - »Entspannung« - "Zerstreuung« gekennzeichnet. Hellmuth Benesch (»Experimentelle Psychologie des Fernsehens«, 1968) hat zur Funktion des Fernsehens Gedanken geäußert, von denen einige auch für den Bereich der Musik gelten. Dem oben erwähnten Begriffsfeld entspricht das von Benesch erwähnte Fundamentalbedürfnis nach Erholung. Nach Benesch kann es weiter aufgegliedert werden in "Entkonzentration«, »Irradiation«, »Regeneration« und »emotionalen Ausgleich«. »Entkonzentration« bedeutet Aufheben der Anspannung der Kräfte, bewusst oder infolge Ermüdung. Unter Irradiation ist die breite Streuung einer vorher engen Zielgerichtetheit zu verstehen, wodurch der Mensch sich vielseitigen Anregungen öffnet. »Regeneration« wird von Benesch als Aufbauphase der inneren Kräfte verstanden, und der »emotionale Ausgleich« ermöglicht ein inneres Getragenwerden durch das Gebotene, sei es spannend oder entspannend. Die individuelle Erholungswirkung ergibt sich aus dem Mischungsverhältnis der vier Faktoren. In der graduellen Abstufung von »Erbauung« bis »Zerstreuung« spiegeln sich verschiedene Musikarten, wie auch verschiedene Ansprüche, wobei eine feste Zuordnung wegen der Streuung der Faktoren »Persönlichkeit« und »Hörsituation« nicht möglich ist.

Ein zweites Funktionsfeld hängt mit der anregenden Wirkung der Musik zusammen. Vermutlich sind es auch einige der im vorigen Abschnitt angeführten Faktoren, denen die Musik am Arbeitsplatz ihre stimulierende Wirkung verdankt. Die Hausfrau bei ihren Tätigkeiten, der Arbeiter in der Fabrikhalle, auch der Schüler bei seinen Hausaufgaben empfinden ihre Tätigkeit oft als monoton. Die dabei unterschwellig aufkommenden Fluchtgedanken werden mindestens zum Teil kompensiert durch musikalisch unterstützte Tagträume, einem Komplex von Erwartungen und Einstellungen, die sich letzten Endes meist als Regressionstendenzen erweisen. Regression (= Rückfall in entwicklungspsychologisch frühere Verhaltensweisen) darf nicht nur negativ beurteilt werden. Durch Regression können wir uns den Kausalzwängen des Lebens für kurze Zeit entziehen. Die Rundfunkanstalten bieten zu bestimmten Zeiten Programme für diese Zwecke an. Außerdem gibt es Firmen, die sich auf Herstellung und Vertrieb von Musik am Arbeitsplatz, im Restaurant, im Kaufhaus oder im Flugzeug spezialisiert haben.

Zuweilen empfinden Menschen, wenn sie allein sind, in der Stille ganz besonders die Leere des Raumes und ein Gefühl der Isolierung. Musik wirkt dagegen raumfüllend und kontaktstiftend.

Für viele Hörer bedeutet das Hören von Musik Begegnung mit einem Sänger, Musiker oder Dirigenten, wobei durch die besondere Gefühlsbeteiligung beim Hören der Interpret als Partner empfunden wird. Nicht selten kommt es dabei zu Identifikationsvorgängen. Ihre psychologische Bedeutung liegt darin, dass der Mensch eigene Antriebe in der Identifikation als erfüllt erlebt, so dass dadurch Frustrationen vermieden werden können.

Nicht mit der Identifikation zu verwechseln ist die Projektion. Hierbei werden eigene Bedürfnisse, manchmal auch entstellend, einer anderen Person zugelegt.

Über diese mehr individuell geprägten Funktionen von Musik hinaus kann Musik auch Symbol einer Gruppe oder eines Status sein und zu einer gewissen Selbstbestätigung oder Selbstidentifikation beitragen. So werden manchmal klassische Sinfonik und Opernmusik als konservativ angesehen; Pop gilt als Ausdruck einer von der Erwachsenenwelt scharf abgegrenzten jugendlichen Teilkultur, und moderner Jazz, Liedermacher und avantgardistische Musik werden gerne von politisch Progressiven für sich reklamiert.

Aufgabe:
Stellen Sie zusammen, in weichem Maße Sie Musik live, aus dem Radio, dem Fernsehen, von der Schallplatte oder vom Tonband hören. Berücksichtigen Sie Musikart, Hörsituation, Funktion und Wirkung

Hörtypologie

Es ist oft versucht worden, die verschiedenen Spielarten des Hörens typologisch zu erfassen. Weithin bekannt ist die Typologie Theodor W. Adornos (»Einleitung in die Musiksoziologie«, 1968). Er gelangt zu seinen Typen nicht durch empirische Untersuchungen, sondern sie sind gedankliche Konstruktionen, in die mit wechselnder Gewichtung Kenntnisse der Musiktheorie, Vertrautheit mit bestimmten Musikarten und Besonderheiten der Wahrnehmung einfließen.

An der Spitze steht der Experte. Er ist an strukturelles Hören gewöhnt, kann Zusammenhänge aus vergangenen und gegenwärtigen Momenten erfassen und voraushören, was kommt. Er registriert, was in jedem Augenblick kompositionstechnisch geschieht und kann sich darüber äußern. Dieser Typ ist selten und vor allem unter Berufsmusikern zu finden.

Der "gute Zuhörer" hat nicht die volle Kompetenz wie der Experte, aber auch er hört Zusammenhänge und gibt begründete Urteile ab. Adorno vergleicht ihn mit einem guten Sprachkenner, der aber von Grammatik und Syntax wenig weiß. Er ist nach Adorno im aristokratischen Milieu des vorigen Jahrhunderts zu finden.

Der "Bildungskonsument" hört viel und ist gut informiert. Strukturellen Mitvollzug ersetzt er durch Kenntnisse; er kennt z. B. die Themen und wartet beim Hören auf besondere Augenblicke. Seine Hörweise ist atomistisch. Er gehört dem gehobenen Bürgertum an. Man findet ihn unter den Konzertabonnenten und im Festspielpublikum.

Der "emotionale Zuhörer" spricht besonders auf emotional gefärbte Musik an. Sie ist für ihn Auslöser für bildhafte Assoziationen und frei flutende Emotionen. Bewusstes Hören verwechselt er mit Kälte der Musik gegenüber.

Der "Ressentimenthörer" verachtet das offizielle Musikleben und zieht sich in eine Sondersphäre, z. B. Bachsche oder vorbachsche Musik, zurück. Er ist gegen subjektiven Ausdruck, kultiviert eine Ideologie der »inneren Werte« und gehört dem gehobenen Kleinbürgertum an.

Verwandt mit dem vorigen Typ ist der "Jazz-Experte". Auch er hat eine Aversion gegen die offizielle Kultur sowie gegen Klassik und Romantik. Er hält sich für avantgardistisch, ist aber befangen in den Grenzen der dem Jazz eigenen Merkmale.

Der "Unterhaltungshörer" genießt Musik nicht als Sinnzusammenhang; sie ist für ihn Reizquelle wie das Rauchen. Seine spezifische Hörweise ist die der Zerstreuung, unterbrochen durch sporadische Augenblicke der Aufmerksamkeit und des Wiedererkennens. In seiner Passivität hat er nichts übrig für Anstrengungen, die ihm Kunstwerke abverlangen würden.

An letzter Stelle stehen der »Gleichgültige« »Unmusikalische«, »Antimusikalische«. Adorno führt die Haltung dieses Typs auf Schäden in der frühkindlichen Erziehung zurück. Oft erscheint seine Haltung kombiniert mit einer überwertig realistischen Gesinnung oder einer technischen Spezialbegabung. Dieser Typ ist sehr selten.

Adorno will seine Typen ausdrücklich als "Idealtypen" verstanden wissen, also als Verkörperungen gedachter Möglichkeiten, in unserer Gesellschaft mehr oder weniger angemessen zu hören.

Die meisten anderen Typologien kommen empirisch zustande. Das Hörverhalten des einzelnen ist, wie wir gesehen haben, bedingt durch Faktoren aus der jeweiligen Beschaffenheit der Musik, aus der musikalischen Sozialisation und aus der Hörsituation. Aus Aussagen über konkrete Höreindrücke lässt sich die individuelle Mischung erkennen. Durch Vergleich der Aussagen ergeben sich Ähnlichkeiten, die sich schließlich auf wenige Grundtypen zurückführen lassen. Auch für empirische Typologien gilt, dass die reinen Typen gegenüber den gemischten selten sind.

Im folgenden sind drei Textbeispiele abgedruckt, in denen sich typische, unterschiedliche Hörweisen spiegeln.
 
»... Ein schönes Lied!« sagte der Meister leise. »Spiele es jetzt einmal in der Altlage!«
Knecht gehorchte und spielte, der Meister hatte ihm den ersten Ton angegeben und spielte nun die drei andern Stimmen dazu. Und immer wieder sagte der Alte: »Noch einmal!«, es gelang jedes Mal fröhlicher. Knecht spielte die Melodie im Tenor, immer von zwei bis drei Gegenstimmen begleitet. Viele Male spielten sie das Lied, es war keine Verständigung mehr nötig, und mit jeder Wiederholung wurde das Lied ganz von selbst reicher an Verzierungen und Rankenspiel. Der kahle kleine Raum mit dem frohen vormittäglichen Licht klang festlich von den Tönen wider.
Nach einer Weile hörte der Alte auf. "Ist es nun genug?", fragte er. Knecht schüttelte den Kopf und begann von neuem, heiter fiel der andre mit seinen drei Stimmen ein, und die vier Stimmen zogen ihre dünnen, klaren Linien, sprachen miteinander, stützten sich aufeinander, überschnitten sich und umspielten einander in heiteren Bogen und Figuren, und der Knabe und der Alte dachten an nichts andres mehr, gaben sich den schönen verschwisterten Linien hin und den Figuren, die sie in ihren Begegnungen bildeten, in ihrem Netz gefangen musizierten sie, wiegten sich leise mit und gehorchten einem unsichtbaren Kapellmeister.
(aus: Hesse, Hermann, Das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Mainz, 36.-46. Auflage 1951, S. 68.)

 
Es war ein reines Orchesterstück, ohne Gesang, ein symphonisches Präludium französischen Ursprungs, bewerkstelligt mit einem für zeitgenössische Verhältnisse kleinen Apparat, jedoch mit allen Wassern moderner Klangtechnik gewaschen und klüglich danach angetan, die Seele in Traum zu spinnen.
Der Traum, den Hans Castorp dabei träumte, war dieser: Rücklings lag er auf einer mit bunten Sternblumen besäten, von Sonne beglänzten Wiese, einen kleinen Erdhügel unter dem Kopf, das eine Bein etwas hochgezogen, das andere darüber gelegt, - wobei es jedoch Bocksbeine waren, die er kreuzte. Seine Hände fingerten, nur zu seinem eigenen Vergnügen, da die Einsamkeit über der Wiese vollkommen war, an einem kleinen Holzgebläse, das er im Munde hielt, einer Klarinette oder Schalmei, der er friedlich-nasale Töne entlockte: einen nach dem anderen, wie sie eben kommen wollten, aber doch in geglücktem Reigen, und so stieg das sorglose Genäsel zum tiefblauen Himmel auf, unter dem das feine, leicht vom Winde bewegte Blätterwerk einzeln stehender Birken und Eschen in der Sonne flimmerte. Doch war sein beschauliches und unverantwortlich-halbmelodisches Dudeln nicht lange die einzige Stimme der Einsamkeit. Das Summen der Insekten in der sommerheißen Luft über dem Grase, der Sonnenschein selbst, der leichte Wind, das Schwanken der Wipfel, das Glitzern des Blätterwerks, - der ganze sanft bewegte Sommerfriede umher wurde gemischter Klang, der seinem einfältigen Schalmeien eine immer wechselnde und immer überraschend gewählte harmonische Deutung gab. Die symphonische Begleitung trat manchmal zurück und verstummte; aber Hans mit den Bocksbeinen blies fort und lockte mit der naiven Eintönigkeit seines Spiels den ausgesucht kolorierten Klangzauber der Natur wieder hervor, - welcher endlich nach einem abermaligen Aussetzen, in süßer Selbstübersteigerung, durch Hinzutritt immer neuer und höherer Instrumentalstimmen, die rasch nacheinander einfielen, alle verfügbare, bis dahin gesparte Fülle gewann, für einen flüchtigen Augenblick, dessen wonnevoll-vollkommenes Genügen aber die Ewigkeit in sich trug. Der junge Faun war sehr glücklich auf seiner Sommerwiese.
(aus: Mann, Thomas, Der Zauberberg, S. Fischer Verlag, Berlin 1926, 2. Bd. S. 513f.)

Der geschilderte Höreindruck bezieht sich vermutlich auf »Prelude a l'apres-midi d'un faune« von Claude Debussy.
 
... Der erste Satz umfasst, wie in einem glühenden Brennpunkt, alle Empfindungen einer reichen menschlichen Natur im rastlosesten, jugendlich tätigsten Affekt. Wonne und Wehe, Lust und Leid, Anmut und Wehmut, Sinnen und Sehnen, Schmachten und Schwelgen, Kühnheit, Trotz und ein unbändiges Selbstgefühl wechseln und durchdringen sich so dicht und unmittelbar, dass, während wir alle diese Empfindungen mitfühlen, keine einzelne von der anderen sich merklich loslösen kann, sondern unsere Teilnahme sich immer nur dem einen zuwenden muss, der sich uns eben als empfindungsfähiger Mensch mitteilt.
Doch gehen alle diese Empfindungen von einer Hauptfähigkeit aus, und diese ist die Kraft. Diese Kraft, durch alle Empfindungseindrücke unendlich gesteigert und zur Äußerung der Überfülle ihres Wesens getrieben, ist der bewegende Hauptdrang dieses Tonstückes: sie ballt sich - gegen die Mitte des Satzes - bis zu vernichtender Gewalt zusammen, und in ihrer trotzigsten Kundgebung glauben wir einen Weltzermalmer vor uns zu sehen, einen Titanen, der mit den Göttern ringt.
Richard Wagner


Aus diesen Textbeispielen sowie aus mehreren Typologien, die Roberts Frances angeführt hat (»La Perception de la musique«, 1958), und einer Typologie von Michael Alt (»Didaktik der Musik«, 1968) lassen sich, über Unterschiede der Benennung und Interpretation hinweg, drei Hörtypen konstruieren:

Der strukturorientierte Hörer verfolgt bewusst die musikalischen Vorgänge. Er registriert technische und stilistische Einzelheiten sowie ihre Integration zur Gesamtform. Je nach Ausbildung und Übung kann er begrifflich benennen, was er hört.

Für den assoziierenden Hörer ist Musik ein an Symbolen und Bildern reiches, stark gefühlshaltiges Geschehen, das er zu deuten und zu verstehen versucht.

Der empfindungsbezogene Hörer empfindet beim Hören von Musik vor allem die Wirkungen, die sie auf ihn ausübt; emotional: Musik führt bei ihm zu Gemütsbewegungen, Stimmungsempfindungen oder Stimmungsverläufen; motorisch: die Musik veranlasst ihn zu rhythmischen Körperbewegungen wie Mitklopfen oder Taktieren; sensorisch: er hat Sinnesempfindungen, sieht Form- oder Farbverläufe, Photismen (Lichterscheinungen) oder Konturen.

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