netSCHOOL MUSIK Schulbuch

aus: "Musik um uns", Lehrbuch für 11.-13. Schuljahr, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1983, S. 150 ff (Fortsetzung)

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Hören und Verstehen

Es wurde bereits erwähnt, dass die Hörtypen kaum jemals rein, sondern in individuell verschiedenen Mischungen vorkommen. Wenn wir daher annehmen, dass sowohl das Erkennen von Strukturen, wie auch das deutende Hören mit Empfindungen verbunden sind, dass Strukturhören und assoziierendes Hören auch kombiniert auftreten können, und dass der Hörvorgang sich in einer konkreten Situation, in der die Musik bestimmte Funktionen und Wirkungen hat, abspielt, wird auch hier wieder deutlich, dass ein so verstandenes Hören ein Kommunikationsprozeß ist, der nicht nur das Hörobjekt, die Musik, sondern auch das Subjekt, den Hörer, differenziert. Der Hörer gewinnt Erkenntnisse über die Musik und über sich selbst.
Musik wird oft mit einer Sprache verglichen, da sie wie diese ein Zeichensystem entwickelt hat und Botschaften übermittelt. Diese Botschaften entbehren jedoch der konkreten Bedeutungen; sie können nicht übersetzt werden. Man kann sie aber dennoch verstehen: Sie geben Einblicke in syntaktische Zusammenhänge (z. B. harmonische Gesetzmäßigkeiten, formale Entsprechungen, stilistische Modelle) und können Affekte, Bilder, Vorstellungen und Gedanken vermitteln. Diese Zusammenhänge wurden durch Gebrauch und durch Lernvorgänge eingeschliffen und tragen das Gepräge ihrer Zeit.

Die geschichtlich-gesellschaftliche Seite eines solchen Musikverständnisses wird im folgenden durch eine Reihe von Zitaten belegt.
 
Nun haben wir aber doch gesagt, dass wir Klagen und Jammer in den Reden nicht brauchen? Allerdings nicht. Welches sind nun klagende Tonarten? Sage es mir: denn du bist ein Musikverständiger. Die gemischtlydische, erwiderte er, und die hochlydische und einige andere dieser Art. Diese also, sprach ich, müssen beseitigt werden; denn sie sind unbrauchbar schon für Frauen, die wacker sein sollen, geschweige denn für Männer.
Allerdings.
Ferner aber ist doch Trunkenheit für Wächter gewiss höchst unziemlich, sowie Weichlichkeit und Müßiggang?
Begreiflich.
Welche unter den Tonarten sind nun weichlich und für Trinkgelage geeignet?
Die ionische, war seine Antwort, und die lydische, welche schlaff genannt werden. Wirst du nun diese, mein Lieber, bei kriegerischen Männern brauchen können?
Keineswegs, antwortete er, sondern es scheint, du behältst die dorische und die phrygische übrig.
... Diese zwei Tonarten, die gewaltsame und die zwanglose, die der vom Glück Verfolgten und Begünstigten, der Besonnenen und Mannhaften Lautfärbung am schönsten nachahmen werden, - diese lass übrig!
(aus: Platon, 427-347: "Der Staat")

 
Ja der heilige Geist lobet vnd ehret selbs diese edle Kunst als seines eigenen ampts Werckzeug, in dem, das er in der heiligen Schrifft bezeuget, das seine Gaben, das ist, die bewegung vnd anreitzung zu allerley tugend vnd guten wercken, durch die Musica den Propheten gegeben werden, Wie wir denn im Propheten Elisa sehen, welcher, so er weissagen sol, befihlt er, das man jm ein Spielman brengen sol, Vnd da der Spielman auff der Seiten spielet, kam die Hand des HERRN auff jn etc. Widerumb zeuget die Schrifft, das durch die Musica der Sathan, welcher die Leute zu aller vntugend vnd laster treibet, vertrieben werde, Wie denn im Könige Saul angezeigt wird, vber welchen, wenn der Geist Gottes kam, so nam Dauid die Harffen vnd spielet mit seiner Hand, so erquicket sich Saul, vnd ward besser mit jm, vnd der böse Geist weich von jm.
(aus: Luther, Martin, Vorrede zu "Symphoniae jucundae", 1538)

 
Von denen Gemühts-Bewegungen/zu welchen die Music treibet. Das Gemüth nimt nach denen verschiedenen harmonien und Thon-Arten auch verschiedene affecten und Bewegungen an; als Freud/Leyd/Muht/Hertzhafftigkeit/Trägheit/Forcht/Hoffnung/Zorn/Mitleyden/u. s. f.
Sonderlich treibet uns die Music zu achterley affecten, wie an anderm Ort erwiesen worden; nach dem sie entweder übereinstimmet und wohl-lautet/oder aber dissoniret und hart lautet/ entweder geschwind oder langsam die Bewegung ist; oder welches mehr ist/wann die Stimm und Thon scharff/hoch und also munter ist; oder tieff fället/den Thon nachlasset/und zum Mitleyden beweget/auch wohl die Augen trähnend machet;
(aus: Kircher, Athanasius, »Phonurgia nova ... «, 1673. Übersetzt von Agathos Carione als "Neu Hall- und Tonkunst», 1684)

 
Die Melodie, die Beugungen der menschlichen Stimme nachahmend, drückt Klagen, schmerz- oder freudenvolle Ausrufe, Drohungen, Seufzer aus; alle stimmhaften Zeichen der Leidenschaften sind ihr Bereich. Sie imitiert die Sprachakzente und Affektwendungen in jeder Mundart bei bestimmten Seelenregungen: sie imitiert nicht nur, sie spricht selbst, und ihre unartikulierte, aber lebhafte, feurige, leidenschaftliche Diktion hat hundertmal mehr Kraft als das bloße Wort. Hieraus entspringt die Stärke musikalischer Nachahmungen, die Macht des Gesangs auf empfindsame Herzen.
(aus: Rousseau, Jean Jacques, »Essai sur l'origine des langues«, 1753 )

 
Die Musik aber halte ich für die wunderbarste dieser Erfindungen, weil sie menschliche Gefühle auf eine übermenschliche Art schildert, weil sie uns alle Bewegungen unsers Gemüts unkörperlich, in goldne Wolken luftiger Harmonien eingekleidet, über unserm Haupte zeigt, weil sie eine Sprache redet, die wir im ordentlichen Leben nicht kennen, die wir gelernt haben, wir wissen nicht wo? und wie? und die man allein für die Sprache der Engel halten möchte.
Sie ist die einzige Kunst, welche die mannigfaltigsten und widersprechendsten Bewegungen unsers Gemüts auf dieselben schönen Harmonien zurückführt, die mit Freud' und Leid, mit Verzweiflung und Verehrung in gleichen harmonischen Tönen spielt. Daher ist sie es auch, die uns die echte Heiterkeit der Seele einflößt, welche das schönste Kleinod ist, das der Mensch erlangen kann;
(aus: Wackenroder, Wilhelm Heinrich, "Phantasien über die Kunst von einem kunstliebenden Klosterbruder", 1799)

 
Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.
In welcher Weise uns die Musik schöne Formen ohne den Inhalt eines bestimmten Affekts bringen kann, zeigt uns recht treffend ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die Arabeske. Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend, sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen korrespondierend, scheinbar inkommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein Gegen- oder Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelheiten, und doch ein Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske nicht tot und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehend. Wie die starken und die feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und Anspannung das Auge stets neu überraschen! Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns vollends diese lebendige Arabeske als tätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung ergießt, wird dieser Eindruck dem musikalischen nicht sehr nahekommend sein?
(aus: Hanslick, Eduard, "Vorn Musikalisch-Schönen", 1854)

 
Wir erkennen im Instrumentalwerke den Ausdruck des Zornes, den der Liebe, den der Sorge, auch wenn wir den Zornigen, den Liebenden, den Sorgenden nicht vor uns sehen, wenn wir seine Stimme nicht unmittelbar hören und nicht Worte uns seinen Erregungszustand schildern. Wir verstehen ihn unbewusst, weil unser Inneres in solchem Maße empfindlicher geworden ist, dass schon die von solchen Eindrücken losgelösten Ausdrucksformen des Tonwerkes in Ton Klang, Rhythmus unsere Organe in das Mitempfinden des gleichen Zustandes versetzen, welchem eben diese Ausdrucksformen entsprungen sind. Ja es bedarf schließlich gar nicht der verstandesmäßigen Erkenntnis bestimmter Erregungszustände als Zorn u. dgl. Solche würden sich dem Verstande überhaupt nur in ihren Beziehungen auf Ursachen und Wirkungen und auf mehr oder weniger bewusste Schlüsse aus Erscheinungsformen klar kundgeben. Auf Ursachen, Wirkungen und Schlüsse kommt es bei unserem Mitempfinden gar nicht an. Aber dieses Mitempfinden äußert sich als Bewegung in den gewohnten Bahnen von Erregungszuständen, berührt damit die Vorstellungssphäre, und wird nun unserem Empfinden ganz klar, wenn auch unser Verstand, etwa darum gefragt, nach Worten zur Erklärung ringen würde.
(aus: von Hausegger, Friedrich, "Das Jenseits des Künstlers", 1893)

 
Die musikalische Symbolkunde hat es mit den Sinngehalten der Musik zu tun, mit dem, was hinter den Tönen als geistiger Kern und Schöpfungsmotiv steht. Denn wo und wie auch immer - selbst auf niederen Kulturstufen - Musik erscheint, wir können nicht anders als sie als »Sinnbild« von etwas entgegenzunehmen, als klingendes »Bild« oder als »Spiegel« irgendeines Sinnes. Selbst wo sie dem Betrachter als bloßes »Spiel« entgegentritt, kann sie nie gänzlich symbollos sein, sonst wäre das Spiel sinnlos, d. h. eben kein Spiel. [ ... ] Ich muss um den Zusammenhang von Klangbild und Sinnbedeutung wissen, um den eigentümlichen Zauber des Symbolischen auskosten zu können. Fehlt dieser Zusammenhang, d. h. vermag ich zwischen Klangbild und Sinnbedeutung keine Verbindung herzustellen, so geht der Reiz des Symbolischen verloren: ich höre die Musik, ohne ihr einen Sinn geben zu können, ähnlich wie mir das Symbol des Kreuzes keins wäre, wenn ich nicht von seiner Beziehung auf Christi Tod wüsste.
(aus: Schering, Arnold, Das Symbol in der Musik, Koehler und Amelang, Leipzig 1941, S. 122-124)

Aufgaben:
Interpretieren Sie die Texte im Hinblick auf die dort angesprochenen Funktionen und Wirkungen der Musik. Bringen Sie die Ergebnisse in Zusammenhang mit den jeweiligen geistigen Strömungen der Entstehungszeiten.


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