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Lebensschule
 

 
Dr. med. Claudia Sies
Doktors Kolumne
Deine Sorgen - meine Sorgen?
Fähigkeit zum Glück
Nicht lang genug
Wir müssen lernen, angemessene Ansprüche an unser Leben zu haben. Wir müssen bereit sein, selbst etwas dafür tun zu wollen, und wenn es mal nicht so klappt, wie wir es uns wünschen, mit dem Frust richtig umgehen. Gewalt ist keine Lösung für eigene Hilflosigkeit.
 

Zu wenig macht wütend

Wie man mit Ansprüchen umgehen lernt

Von Dr. med. Claudia Sies

Der gesellschaftliche Anspruch nach Wohlbefinden und dessen stetiger Verbesserung ist in den letzten beiden Generationen immer mehr angewachsen. Und war noch nie so hoch. Das hat Folgen für das seelische Gleichgewicht bis in die Kinder-, Schul-, Wohnzimmer hinein.

In den Kinderzimmern erleichtern die Eltern in bester Absicht den Sprösslingen das Leben. Ihr oberstes Ziel für deren Leben ist „glücklich sein“ und „Spaß haben“. Verständlicherweise können sie ihren Kindern nicht gleichzeitig zur Seite stehen, wenn diese lernen müssten, mit Frustration umzugehen. Diese Einstellung zum Kind ist wie ein uneinlösbares Versprechen für ein leichtes Leben, das nie anstrengend werden darf.

Wird es dann doch schwierig, ist das Werkzeug zur Meisterung von Anforderungen nicht erworben und so stellen sich schnell Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht ein. Diese auszuhalten und zu bewältigen gehört zu den schwersten Aufgaben im menschlichen Leben. Hat man dafür keine Kompetenz erworben, muss man diese Emotionen sofort loswerden. Die wirksamste Methode ist, sie in Gewalt zu kippen. Man fühlt sich dann wieder stark, besiegt jemanden und braucht diese starken Affekte selbst nicht zu meistern. Diesen Vorgang findet man auch in den Schulzimmern: „Was haben wir nur falsch gemacht?“, fragen sich die Eltern vom Paul. „Wir haben dem Kind doch jeden Wunsch von den Augen abgelesen und wollten, dass es ihm immer gut geht.“

Nun sind sie schockiert, dass diese gut gemeinte Haltung zum Gegenteil geführt hat. Paul ist oft unzufrieden und wird auch zu Hause schnell aggressiv, wenn es nicht nach seinem Willen geht. Unangenehmes auszuhalten, ist nicht seine Sache. Paul ist erst zwölf Jahre alt und gehört in der Schule schon zu einer Gruppe gewalttätiger Jungen, die andere nicht nur einschüchtern, sondern auch prügeln, treten und quälen. Wenn man sie fragt warum, dann waren es oft nur Kleinigkeiten, die sie am Opfer störten oder verunsicherten.

Aber auch zu stark vernachlässigte Menschen, denen am Anfang des Lebens nicht bei der konstruktiven Bewältigung von Schwierigkeiten geholfen wurde, können sich nicht vorstellen, dass man Entbehrungen und Kummer aushalten kann.

Bei kleinen Differenzen in ihren Beziehungen stellt sich sofort ein Gefühl der Hilflosigkeit ein, das, noch bevor es richtig geortet werden kann, in gewaltsames Verhalten umschlägt: Anschreien, Schikanieren, körperliche Gewalt. Die befürchtete Ohnmacht wird sofort ausgeglichen - nach dem Motto: „Ich habe noch etwas zu bekommen, das man mir früher vorenthalten hat.“ So wird schnell das Gefühl der Selbstsicherheit wieder hergestellt, da auf andere Lösungen und Antworten auf schwierige Anforderungen nicht zurück gegriffen werden kann.

Seelisch zu bearbeiten ist sowohl der Anspruch auf ein leichtes, immer glückliches Leben, sowie der Anspruch: „Mir steht noch etwas zu, weil ich nicht genug bekommen habe“ - sonst sind Menschen mit dieser Haltung heutzutage - bei sinkendem Wohlstand - besonders wütend.

Doktors Kolumne, Rheinische Post, 2.4.2004

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