netSCHOOL    
Lebensschule
 

 
Dr. med. Claudia Sies
Doktors Kolumne
Fähigkeit zum Glück
Nicht lang genug
Zu wenig macht wütend
Fürsorgliche Eltern oder Erzieher versetzen sich oft zu sehr in ihre Kinder, leiden mit ihnen und nehmen ihnen so ihre Sorgen ab.
Ganz schlecht, denn sie behindern sie dadurch, selbst Verantwortung für ihr eigenes Tun zu übernehmen.
 

Deine Sorgen - meine Sorgen?

Von Dr. med. Claudia Sies

Frau W. war am Ende ihrer Kräfte. Verhärmt und abgehetzt klagte sie über vielerlei Sorgen, die sie sich über ihre Kinder machte. Die zwölfjährige Tochter Maria war in der Schule so abgesackt, dass sie nur mit Mühe die Versetzung schaffte. Frau W. hatte deshalb viele schlaflose Nächte. Maria war trotz schlechter Noten relativ unbekümmert. Die Sorgen überließ sie ja ihrer Mutter.

Ihre nächste Sorgenquelle war ihr fünfjähriger Sohn David. Er prügelte sich über Gebühr im Kindergarten. Sie war verzweifelt und schimpfte mit ihm. Aber das hatte er immer schnell vergessen und schikanierte die anderen Kinder weiter. Frau W. litt zusätzlich darunter, dass die anderen Kinder nicht mehr mit ihm spielen wollten und die Eltern sich immer wieder beschwerten. David beobachtete seine Mutter genau. Besonders wenn sie wieder wegen eine seiner Missetaten weinte. Manchmal versprach er, es nicht wieder zu tun, aber ändern konnte er sein Verhalten nicht, denn: nicht er, sondern seine Mutter litt unter den Folgen seines Tuns.

Mit dem 16-jährigen Sohn Dustin durchlitt sie jeden Liebeskummer fast mehr als dieser selbst. Sie konnte ihn nicht leiden sehen und versuchte ihn durch Unternehmungen von seiner Traurigkeit abzulenken. So ging es ihm schnell gut, während sie noch unter seinen misslungenen Beziehungen litt.

Frau W. versuchte den Menschen um sie herum in bester Absicht ihre Last abzunehmen. Aber der Bibelspruch: „Einer trage des anderen Last“ hat so seine Tücken. Er meint sicher nicht: Einer nehmen dem anderen seine Last weg. Das klingt nach Diebstahl. Wer jemandem eine Last abnimmt, die er selber tragen könnte, nimmt ihm neben der Last auch die Erfahrungen im Umgang mit etwas Schwierigem weg.

Frau W. hatte schnell verstanden, dass genau die Sorgen, die sie sich um das Verhalten ihrer Kinder machte, sich diese nicht selbst zu machen brauchten. So konnten die Kinder in der Schule bummeln, im Kindergarten hauen und in der Liebe achtlos sein, denn die Folgen durchlitt die Mutter.
Maria war zunächst irritiert, als ihre Mutter ihr Verhalten änderte und sagte: „Schlimm für dich die schlechte Mathe-Note!“ - anstatt wie sonst unter Tränen: „Wie konntest du mir das antun!“ Sie stellte sich aber allmählich auf eigene Verantwortung um, weil die Mutter immer wieder so reagierte.

Zu David sagte sie immer wieder kurz und bündig: „Ach, du weißt noch nicht, dass die anderen Kinder dich dann nicht mögen, wenn du ihnen weh tust.“ Mit Dustin hatte sie zwar Mitleid, wenn er wieder unglücklich war. Aber sie ließ ihn wissen: „Mir fällt auf, dass du dir Freundinnen suchst, die nicht zu dir passen - und zu denen du auch nicht passt. Das tut immer wieder weh.“ So wurde er selbst zuständig für seinen Liebeskummer.

Doktors Kolumne, Rheinische Post, 19.9.2003

  zurück zu Lebensschule

 

oben home Inhalt:   Werner Plack web design:   hp maly 2007 zurück