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Dr. med. Claudia Sies
Zur Person
Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin; Psychoanalytikerin; Lehranalytikerin,
Supervisorin und Dozentin am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie e.V. Düsseldorf;
Dozentin am Institut für Gruppenpsychotherapie Düsseldorf, Gruppenlehranalytikerin;
ehem. Lehrbeauftragte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Psychoanalyse und Systemtheorie),
bis 2004 viele Jahre Dozentin bei der Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen e.V.,
Göttingen, wo die drei Gruppenverfahren des Göttinger Modells gelehrt werden,
1.Vorsitzende am Institut für Psychodynamische Organisationsberatung und Personalmanagement Düsseldorf e.V.;
Themenschwerpunkte: Balint-Gruppen, Selbsterfahrung in Einzelsitzungen und Gruppen, Paartherapie,
Coaching und Unternehmensberatung, wohnhaft in Neuss, eigene Praxis.
Die Psychoanalyse hat ein ganzheitliches Menschenbild und hilft dem Menschen, zu sich selbst und zu den anderen zu finden. Über die Spannungen und Probleme, denen wir Menschen heute ausgesetzt sind, und wie Psychoanalyse, Selbsterkenntnis und Psychotherapie den Menschen helfen können, erfahren wir viel Wissenwertes im folgenden Interview (Interview am 14.12.1994 von Petra Holler und Frank Mutert in Düsseldorf) mit Frau Dr. Sies.
Claudia Sies:
Das Theorien- und Gedankengebäude der Psychoanalyse und ihr Menschenbild waren von ihren Anfängen an
revolutionär und befreiend und haben sich gemäß zeitgenössischer Anforderungen und Entwicklungen
in Nachbarwissenschaften dauernd verändert.
Zu Ihrer ersten Frage: Ist die Psychoanalyse als spezielle Form der Selbsterkenntnis heute noch aktuell?
Wenn wir davon ausgehen, dass die Psychoanalyse in der Jahrhundertwende entstanden ist,
in einer Zeit also, in der die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft so stark geworden war,
dass man der seelischen Krankheiten kaum noch Herr wurde, dann könnten wir vergleichen,
unter welchen Umständen entstand die Psychoanalyse damals und war von da an aktuell,
und wie steht es heute um diese Spannung zwischen Mensch und Gesellschaft und den Stellenwert der Psychoanalyse?
Am Anfang des Jahrhunderts war der "Prozess der Zivilisation",
also die Art der Verinnerlichung der Dynamik zwischen Trieb und Triebunterdückung, dysfunktional geworden,
da die Seite der Triebunterdrückung durch ein immer fester werdendes Normenkorsett ein starkes Übergewicht bekommen hatte.
Eine Folge davon war, dass seelische Erkrankungen in einem fast unbeherrschbaren Maße anstiegen
und ebenso die Zahl der Psychiatrie-Anstaltsinsassen.
Das alles verlangte geradezu nach einer neuen Art des Umgangs mit seelisch Kranken.
Damals begann die Psychoanalyse zu einer aktuellen Methode,
ja zu einer allgemein aufgegriffenen Sichtweise auf den Menschen zu werden.
Zunächst, weil sie den von außen und von innen her extrem unterdrückten vitalen Impulsen zum Leben verhalf.
Bald aber ging es in der Psychoanalyse längst nicht mehr um Triebbefreiung -
auch wenn sich das bis heute noch nicht allgemein herumgesprochen hat.
Mit der Einführung der Instanzen ES - ICH - ÜBER-ICH wurde das ICH
zum zentralen Beobachtungs- und Behandlungsort der Psychoanalyse, die Stelle in der Person,
die die Spannung zwischen ES und ÜBER-ICH, zwischen der Triebwucherung und der Gewissensstrenge wahrnimmt,
aushält und im besten Fall als kreatives Potential umsetzt unter Berücksichtigung der Verknüpfung
mit der äußeren Realität, z.B. anderer Menschen.
Welchen Spannungen ist das Individuum heute in der Gesellschaft ausgesetzt, und in welcher Beziehung dazu steht die Psychoanalyse als Methode der Selbsterkenntnis und Therapie?
Im Gegensatz zur Jahrhundertwende, wo die Regeln und Normen immer enger geworden waren,
haben wir es heute mit Menschen zu tun, für die sich in einem verschärften Tempo feste traditionelle Vorgaben
wie z.B. Geschlechtsrolle, Familie, Elternschaft, Heiratsalter, Berufslaufbahn, Klasse, Rangordnungen und Hierarchien
in der Arbeitswelt, die Kleiderordnung, altersangemessenes Verhalten, der Tod, das Sterben und die Religion aufgelöst haben.
D.h. die bisher gewohnten Außennormen sind an vielen Stellen verschwunden oder verändern sich in einem rasanten Tempo.
Dies weist auf ein umfassendes zeitgenössisches, gesellschaftliches Problem und - in Antwort darauf -
auf einen gegenwärtig ubiquitären seelischen Konflikt, auf den die Psychoanalyse eingestellt ist
und dem gegenüber sie zusätzliche Kompetenzen erworben hat: auf den Konflikt der Notwendigkeit,
sein eigenes Leben zu führen, unter dem Zwang, sich permanent entscheiden zu müssen,
mit all der seelischen Kompetenz, die dazu gebraucht wird,
während auf der anderen Seite die Sozialisation des heutigen Menschen immer noch nicht auf diese Fähigkeiten abzielt.
Die Erziehung schwankt zwischen enger Führung und Vorschriften von außen - oder maßloser Toleranz,
was beides die heute stärker verlangte Selbststeuerung nicht gerade fördert (Sies, 1995).
In Antwort auf diese Art von Erziehung entstehen auch heute noch seelische Strukturen,
die besser im Zusammenspiel mit autoritären äußeren Institutionen zurechtkommen
als mit den gegenwärtigen Institutionen, die das Risiko falscher Entscheidungen dem Einzelnen überlassen(vgl. Rauschenbach, 1994).
"Die Gesellschaft zeichnet nicht mehr Lösungsrichtungen vor, sondern nur noch das Problem;
sie tritt dem Menschen nicht mehr als Anspruch an moralische Lebensführung gegenüber,
sondern nur als Komplexität, zu der man sich auf je individuelle Weise kontingent und selektiv zu verhalten hat"
(Luhmann, 1994).
Auf exakt diese Weise arbeitet die Psychoanalyse.
Ja, es entspricht geradezu ihrem Selbstverständnis, keine Lösungsmöglichkeiten aufzuzwingen,
sondern das persönliche Problem zu verstehen, um dem Klienten zu ermöglichen,
seine Selbstwahrnehmung und seine Eigensteuerung so zentral wie möglich zu besetzen,
um jeder Situation so vital und exakt wie möglich begegnen zu können und nicht nur mit der Situation,
zu deren Lösung man ihm verholfen hat, fertig werden zu können.
Die Psychoanalyse ist nicht daran interessiert, mit dem Klienten so umzugehen,
wie er es gewohnt war und wie der Schaden ja entstanden ist: nämlich durch Vorschläge von außen,
wie er zu sein hat, und wie er sich zu verhalten hat, wie er zu denken hat,
anstatt vom Anfang des Lebens an herausfinden zu können,
wie er am besten mit sich übereinstimmt und gleichzeitig die Realität berücksichtigt.
Hinzu kommt, dass sich innerhalb der Psychoanalyse viele neue Schulen entwickelt haben
und damit vielfältige, unterschiedliche psychoanalytische Verstehensweisen des Menschen eröffnet werden.
Diese Theorienvielfalt und die flexiblen Verbindungen der Theorien untereinander wird der Komplexität seelischer Vorgänge
und ihrer Verknüpfungen am umfassendsten gerecht. Diese erhöhte Komplexität entstand entlang der Tatsache,
dass heute, da alle Menschen vom Zwang, bis ins Kleinste alles selbst entscheiden zu müssen, erfasst sind,
dadurch der Einzelpsyche immer mehr Verantwortung aufgebürdet wird und seelische Vorgänge immer mehr Wichtigkeit,
Ansprüche und Macht bei Entscheidungsprozessen bekommen,
wo man sich vorher nur nach Regeln, Ritualen, Traditionen und Vorschriften zu richten brauchte.
(Auf der weiteren Suche in Nachbarwissenschaften fand ich den Ausdruck:
"Demokratisierung von Individualisierungsprozessen"; Beck und Beck-Gernsheim, 1994).
Die Psychoanalyse zielt sowohl auf Selbstwahrnehmung wie auf Selbststeuerung (Rudolf et al., 1995),
sie lässt gesund werden anstatt gesund zu machen. Dabei versucht sie herauszufinden,
wodurch diese Qualitäten im Laufe der Kindheit, der Pubertät oder im weiteren Lebenslauf behindert wurden.
An diese Stellen seines Lebens kann der Klient in der psychoanalytischen Beziehung noch einmal durch Regression gelangen,
also an die in der Gegenwart enthaltene Vergangenheit, und keineswegs wird die gesamte Kindheit ins Bewusstsein gezerrt,
wie Kritiker glauben machen wollen.
Die psychoanalytische Beziehung,
die auf so unterschiedlichen Feldern wie z.B. der Arzt-Patienten-Beziehung im Liegen auf der Couch oder im Gegenübersitzen,
in der Paarbehandlung oder der Gruppentherapie angewandt wird,
greift im Grunde auf die alltäglichsten Vorgänge in menschlichen Beziehungen zurück,
nämlich auf Verkennung eines anderen Menschen durch eine vorurteilsgetönte Wahrnehmung.
Diese Wahrnehmung wurde im Laufe der Lebensgeschichte erworben,
und da es diesen Vorgang immer gibt und unter Menschen immer geben wird,
wird der Psychoanalyse immer ihr Platz unter den verschiedenen Zugängen zum Seelenleben bleiben.
Kümmert sich die Psychoanalyse nicht ums Verhalten?
Dass es sicher auch Psychoanalysen gibt, bei denen sich am Verhalten des Klienten nichts ändert,
hat höchstens etwas mit Psychoanalytikern zu tun und nicht mit der Psychoanalyse.
Nur wer nach guter Rebellenmanier die Psychoanalyse köpfen möchte, um sich selbst nach oben zu setzen,
kann wie Herr Grawe behaupten, die Psychoanalyse kümmere sich nicht ums Verhalten.
Nicht nur Freud, auch die zeitgenössische psychoanalytische Literatur gibt genügend Auskunft darüber,
wie wichtig neben der Frage: "worauf will dieses neurotische Symptom, (z.B. Flugangst) aufmerksam machen",
in der psychoanalytischen Behandlung immer auch das Sich-Hineinbegeben in die gefürchtete Situation,
also das Verhalten, ist (s.a.König, 1981).
Überhaupt gehört zur psychoanalytischen Behandlung das Umsetzen des Erkannten,
Erlebten und Durchgearbeiteten ins Verhalten.
Wenn nun aber selbst die Hirnforscher sagen, dass 80% (manche setzen 95% an) unseres Verhaltens
von uns nicht bewusst zugänglichen Vorgängen gesteuert werden, dann kann man sagen,
dass die Psychoanalyse mit ihrem Arbeitsfeld, das sich diesen unbewussten Vorgängen zuwendet,
den Menschen ganzheitlich erfasst.
Dass das Arbeiten in diesem großen unbewussten Bereich länger braucht und unterirdisch oder unter Wasser
(was allgemein den Bildern vom Unbewussten entspricht) beschwerlicher und langwieriger ist,
weil es bis an die Wurzeln geht, ist verständlich.
Mit welchen Zeitfragen haben Sie sich beschäftigt?
In der Ausbildung, in Paarbehandlungen, in Gruppen,
immer wieder bin ich der Frage begegnet und habe mir darüber Gedanken gemacht: wie sind die Frauen?
Wie sind die Männer? Gibt es außer biologisch bedingten körperlichen Unterschieden
unterschiedliche seelische Eigenschaften?
Wie wirken sich gesellschaftliche, soziale und kulturelle Verhältnisse auf die Entwicklung und Reifung beider Geschlechter aus?
Wie fatal kann sich unter patriarchalen Verhältnissen die angebliche Andersartigkeit der Frau,
und sei sie noch so positiv deklariert, auswirken?
Was ihr heute zu ihrem Vorteil gereicht, führt morgen zu ihrer Disqualifizierung.
Wird z.B. der weibliche Führungsstil heute als der bessere und effektivere für moderne Unternehmen gesehen,
weil Frauen angeblich nicht so hierarchisch denken, teamfähiger und demokratischer agieren,
offener für Veränderungen und intuitiver sind, kann das in Zeiten der Rezession zu ihrem Schaden umschlagen.
In Krisenzeiten werden nämlich Manager bevorzugt, die streng hierarchisch denken,
autoritär sind und das Alte bewahren, alles Attribute, die Männern zugeordnet werden.
Die sogenannte Andersartigkeit der Frau entschärft eher die Bemühungen um die Gleichberechtigung,
weil diese dadurch in die Gefahr gerät, für Sonderrechte geopfert zu werden, z.B. darf sie nicht nachts arbeiten,
auch dann nicht, wenn sie das will.
Die sogenannte Andersartigkeit oder Besonderheit kann auch eine Umschreibung für "gehandicapt" sein.
Eine äußerst wichtige Frage für Frauen und Männer ist:
Wie kann ich alle Anteile, Fähigkeiten, Begabungen, die in mir angelegt sind, leben?
Statt: die Frau möchte ihre "männlichen" Anteile leben oder der Mann seine "weiblichen",
würde man dann sagen:
Sie möchte ihre kräftigen, durchsetzungsfähigen Fähigkeiten als Frau leben oder er möchte seinen sensiblen,
zarten, weichen Seiten als Mann leben.
Gibt es dann gar keine Unterschiede mehr zwischen Frau und Mann?
Als Menschen gibt es sehr viele Unterschiede, je nach menschlicher Anlage, Förderung, Entwicklung, aber warum z.B. gerade "warmherzig" oder "empfangen" nur bei der Frau? Dann kann ein Mann nicht empfangen. Ich hatte einen Klienten, der vor der Analysestunde auf einen Parkplatz fuhr und sich zwischen die Beine schaute und eine Vagina phantasierte. Er war selbst darüber sehr beunruhigt und fühlte sich verstanden, als ich ihm sagte: "Sie glauben, Sie müssen das Geschlecht wechseln, um in der folgenden Stunde bei mir etwas "aufnehmen" zu können, weil Sie nur als Frau "empfangen" können" (Sies, 1993)
Welche Gründe könnte es für einen jungen Menschen geben, heute noch Psychoanalytikerin oder Psychoanalytiker zu werden.
Wenn man dem ganzen Menschen gerecht werden möchte,
grundlegendes Wissen über individuelle Zusammenhänge des Erlebens,
des Verhaltens, der Seele und des Körpers in Interaktion mit der Umwelt erwerben möchte,
dann ist die Psychoanalyse immer noch die umfassendste, tiefgehendste und gründlichste wissenschaftliche Methode,
das Seelenleben zu studieren und bis in das Zentrum zu verstehen.
Von allen Methoden bekommt die junge Akademikerin und der junge Akademiker
auf dem Wege zur Psychoanalytikerin und zum Psychoanalytiker die intensivste Ausbildung,
die allerdings viel Zeit und nicht wenig Geld kostet, vor allem wegen der Lehranalyse,
in der die/der AusbildungskandidatIn auf dem Weg zu sich selbst seine Eigen-Art erfährt,
damit sie/er dann nicht bestimmte Eigenheiten, die zu ihr/ihm selbst gehören, projektiv dem Klienten anlastet.
Im Gegensatz zu allen anderen in kurzer Zeit zu erwerbenden Ausbildungen hat eine fertige Psychoanalytikerin
und ein fertiger Psychoanalytiker zwischen fünf und acht Jahren Zusatzausbildung
nach dem medizinischen oder psychologischen Abschlussexamen absolviert. Das ist für Patienten vertrauensbildend.
Aber ein weiterer Punkt erscheint mir an der Psychoanalyse attraktiv für junge Menschen zu sein.
Das Theorien- und Gedankengebäude der Psychoanalyse und ihr Menschenbild waren von ihren Anfängen an
revolutionär und befreiend und haben sich entlang zeitgenössischer Anforderungen
und entlang der Entwicklungen in Nachbarwissenschaften dauernd weiterentwickelt.
Trotz gegenteiliger Unterstellungen ist die Psychoanalyse auch heute nicht auf lineares und auf kausales Denken festgelegt.
(Natürlich gibt es Deterministisches und Kausales im menschlichen Leben und Denken, also auch in der Psychoanalyse.)
Von ihren Anfängen an war der Psychoanalyse aber immer auch zirkuläres und systemisches Denken inhärent.
So gehört z.B. zum Menschenbild der Psychoanalyse die zirkulärsystemische Vorstellung,
dass man niemandem schaden kann, seien es andere Menschen, die Natur oder die Umwelt,
ohne sich gleichzeitig selbst zu verletzen.
Zirkulär dachte sie immer auch, weil es bei jedem Schritt,
den ein Patient in Richtung Progression oder in Richtung Regression macht,
immer auch um die damit verbundenen Konsequenzen geht. Systemisch war sie von Anfang an,
da es immer um die Dynamik zwischen mehreren Bereichen der Person ging, z.B. Bewusstes, Vorbewusstes, Unbewusstes;
Es, Ich, Über-Ich oder Selbst- und Objektrepräsentanzen.
Aber auch das Analytiker-Analysand-System ist wie die anderen ein komplexes System.
Aber am Interessantesten finde ich ja, dass einer der wichtigsten Lehrer und Autoren Sigmund Freuds,
der von den modernsten Systemtheoretikern und Chaosforschern wie z.B. Manfred Eigen und Ilja Prigogine
als ihr Vorläufer bezeichnet wird, Gustav Theodor Fechner war (Heidelberger, 1990).
So kann man sagen, wir haben das systemische Denken schon mit der Muttermilch bekommen.
Während manche Kritiker der Psychoanalyse (und manche Forscher)
diese in ein positivistisches Wissenschaftsverständnis zwingen möchten,
das andere Wissenschaften längst wieder verlassen haben,
hat die Psychoanalyse schon Anschluss an die modernsten Systemtheorien (s.a. Sies und Brocher, 1986)
und zwar nicht zuletzt durch ihren Stammbaum. Fechner hat zu seiner Zeit eine Theorie der Selbstorganisation entworfen
(Fechner, 1873, 1985). Dass sich diese nicht im Sinne eines Paradigmenwechsels durchgesetzt hat,
führt Heidelberger u.a. darauf zurück,
dass er damals bereits die "chaotische Regellosigkeit" als eine Seite des physischen und psychischen Daseins anerkannt hat.
Bis vor kurzem waren die Naturwissenschaften - und sind es auch heute überwiegend noch - gerade bestrebt,
ihre Theorien und Experimente chaosfrei zu halten.
D.h. Unbestimmbarkeit, Ungenauigkeit und Unsicherheit wurden als etwas Nichtexistentes gekennzeichnet
und sollten ausgeschlossen werden. Inzwischen aber haben sich die grundlegenden Annahmen
der traditionellen Naturwissenschaften verändert, nicht zuletzt, weil sich die technischen Möglichkeiten in Physik,
Mathematik und Computerwissenschaften derart weiterentwickelt haben,
dass die Erfassung der Komplexität nichtlinearer Systeme in rasantem Tempo vorangetrieben wurde.
Während vorher biologische Systeme auf ihre Regelhaftigkeit und Vorhersagbarkeit und Homogenität hin untersucht wurden
(und damit Wirklichkeit auf Kausalität untersucht und im Sinne von "gleiche Ursache - gleiche Wirkung" reduziert wurde),
hat sich die Wahrnehmung der Wirklichkeit heute dahingehend erweitert,
dass die meisten biologischen Systeme unstetig, unregelmäßig und inhomogen sind.
In den Theorien und in der Praxis der sogenannten tendenzlosen Psychoanalyse wird nun heute allen Erkenntnissen über komplexe,
nichtlineare und damit im Voraus berechenbare Systeme Rechnung getragen.
"Das Tastende, Vage, Unsichere der Begriffsbildung entspricht sogleich dem psychoanalytischen Prozess.
Hier werden nicht in erster Linie funktionale Beziehungen zwischen Es, Ich und Über-Ich untersucht,
sondern Analytiker und Analysand nähern sich, unsicher Suchenden auf fremden Gebiet vergleichbar,
dem Unbewussten" (Plänkers, 1986).
Genau dieses Prinzip des Nicht-Wissens für den anderen, wie er sein muss und was er machen muss,
um zu sich selbst zu kommen und mit sich übereinzustimmen, enthält das Wesen der psychoanalytischen Beziehung.
Gerade das macht ihre Exaktheit aus: die Unklarheit und die Unbestimmtheit als unentbehrliche Variablen solange mitzuschleppen,
bis das exakteste Ergebnis erzielt werden kann.
(Anmerkung: In der Computerwissenschaft nennt man diese Art des Denkens Fuzzy-Logic,
die auf den Erkenntnissen über die Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert, basiert.
Ein einfaches Beispiel dieser Logik: dreimal drei ist neun ist "richtig", dreimal drei ist acht ist "falsch",
dreimal drei ist sieben ist "noch falscher".) (Sies und Brocher, 1990)
Der tiefere Sinn und der therapeutische Nutzen dieser psychoanalytischen Haltung ist folgender:
Nur so haben seelische Anteile, die noch nie in eine Beziehung integriert werden konnten und solche,
die noch nie verstanden worden sind, eine Chance gespürt und angenommen zu werden.
Integriert können sie nun mit der Person wachsen und reifen
und brauchen sich nicht mehr durch "Störung" bemerkbar zu machen.
Manche junge Psychologen und Ärzte, für die die Werte der Profitgesellschaft (schneller, besser, mehr um jeden Preis)
ihre Legitimation eingebüßt haben, z.B. auch wegen der weltweit zu spürenden katastrophalen Folgen,
könnten statt von schneller Symptomheilung, bei der es nicht auf Entwicklung ankommt,
vielleicht weniger angezogen werden als von der Psychoanalyse, die die Vorstellung hat,
der Mensch wird vom Unbewussten getragen und braucht Lebenszeit für Wachstum, Reifung und Entwicklung.
Und wenn diese nicht geglückt sind, dann braucht er für dauerhafte Heilung durch Behandlung Lebenszeit,
und diese kann man, wenn man auf Heilung von der Wurzel her hinauswill, die Krisen übersteht, nicht abkürzen.
Junge Forscher könnten angezogen werden durch die Herausforderung,
dass man die Seele nicht so leicht "objektivieren" kann und auch nicht muss,
wenn man sich an die "Relativierung von Berechenbarkeit seelischer Prozesse" heranwagt.
Und diese "Relativierung der Berechenbarkeit" kann man jetzt wieder zusammensehen mit der
"Objektivität des subjektiven Beobachterstandpunkts" der modernen Physik.
Welche Zeitfragen sollten von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern stärker beachtet, untersucht oder gar beantwortet werden?
Es wäre zu wünschen, dass Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker nicht erst in ihrem Praxisalltag
von Zeitphänomenen überrascht werden,
sondern schon während deren Entwicklung mit ihrer spezifischen Art des Denkens zur Verfügung stünden.
Die Fragen nach der Entstehung von Gewalt sollten immer wieder eine Herausforderung für die Psychoanalyse sein.
Die Psychoanalyse könnte sowohl etwas zu einigen Ursachen ihrer Entstehung in den frühen Objektbeziehungen sagen,
über die Auswirkungen von Übergriffen früher Bezugspersonen auf das Kind in vielen kleinen Situationen,
dem Aufzwingen eigener Denk- und Verhaltensweisen unter der Androhung von Entzug der Zuneigung und Zuwendung.
Die Psychoanalyse könnte im weiteren Verlauf, wenn die Aggressivität und das Gewaltverhalten in der Schule anschwillt,
die Lehrer über die unbewusste Dynamik aufklären.
Ich selbst arbeite viel mit Lehrern in analytischen Gruppen und kann mitverfolgen,
wie sich ihre Fähigkeit, mit disziplinlosen, gewalttätigen Klassen umzugehen, verbessert.
Lehrer, die vorher kaum noch schlafen konnten vor lauter Angst,
am nächsten Tag wieder vor dieser Klasse stehen zu müssen, konnten lernen sich soweit selbst zu besetzen,
dass sie nicht mehr zurückweichen mussten, sondern den Schülern wirklich begegnen konnten,
ohne selbst Gewalt anzuwenden oder sich anzubiedern. Das eigene Zentrum zu besetzen heißt zugleich,
in den eigenen Grenzen spürbar zu werden.
Auch Lehrer können den Kindern oder Jugendlichen hier eine korrigierende Erfahrung ermöglichen.
Weitere Gebiete sind die Friedensforschung, die Entstehung von Feindbildern, die Abbaumöglichkeit von Feindbildern.
Solche Basisdinge wie Aushalten von Unterschiedlichkeit (Differenzakzeptanz), Infragestellen des Zwanges,
den anderen vom eigenen Weltbild überzeugen zu wollen,
gehören zum Alltag der psychoanalytischen Arbeit und könnten daher für die Gesellschaft wertvoll sein.
In allen großen psychoanalytischen Theorien ist Material für die Friedensforschung enthalten.
Sowohl in der Triebtheorie, wie in der Ich-Psychologie, der Objektbeziehungstheorie oder der Selbst-Psychologie.
In diesen Rahmen gehört auch die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Verständnis für Delikte.
So lässt doch die Vorstellung, ein Täter könnte anders, wenn er nur wollte,
als Antwort auf ein Delikt nur die Strafe zu. Damit ist es nicht mehr möglich, Resozialisierung wirklich ernst zu nehmen.
Natürlich weiß die Psychoanalyse auch, dass es Schutz geben muss für die Menschen vor Tätern.
Aber das ist eine ganz andere Frage als die, ob der Täter immer auch anders könnte.
In München z.B. läuft durch Initiative eines Paares: Gertrud Wendl-Kempmann ist Psychoanalytikerin,
Philipp Wendl Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht,
seit Jahren als Teil der Ausbildung der Juristen zu Richtern und Staatsanwälten eine obligatorische Weiterbildung
mit psychoanalytischen Inhalten.
Sie enthält Balint-Gruppen, Analytische Selbsterfahrungsgruppen und psychoanalytische Rollen- und Prozessspiele
(Wendl-Kempmann und Wendl, 1986; Sies und Wendl-Kempmann, 1990).
Z.B. an einer Prozessspieltagung muss seit 1978 jeder Richter im ersten Berufsjahr eine Woche lang teilnehmen.
Ich selbst habe in den 70er Jahren mit dem Ehepaar Wendl-Kempmann/Wendl an der Deutschen Richterakademie Trier
solche Tagungen durchgeführt und es war sehr spannend, mitzuerleben,
wie sich die Einstellung der Juristen von einer Abwertung unbewusster Phänomene
hin zu einer großen Bereitschaft veränderte, diesen ganzheitlichen Zusammenhängen nachzugehen,
weil sie ja bei ihrer Arbeit das Bedürfnis - wenn nicht gar den Anspruch - haben, dem ganzen Menschen gerecht zu werden (l.c.).
Eine weitere Zeitfrage, die ich anfangs andeutete mit der "Demokratisierung von Individualisierungsprozessen",
wird uns als Psychoanalytiker immer mehr interessieren müssen.
Diese Veränderungen setzen eine große Vielfalt an neuen Formen des Zusammenlebens frei,
die ungesteuert und ungeschützt von Normen und traditionellen Werten,
dem Gestaltungswillen des Einzelnen überlassen bleiben.
Eine wichtige Zeitfrage ist daher auch, ob die heterosexuelle Zweierbeziehung weiterhin der alleinige Referenzpunkt
für glückliches Zusammenleben bleibt,
an dem alle anderen Beziehungsformen gemessen werden sollen und die allein die tiefsten und umfassendsten Gefühle
erzeugen soll, oder untersuchen wir die neu entstehenden Lebensgemeinschaften,
den damit entstehenden Wandel der Gefühlskonstruktionen und nicht zuletzt deren Auswirkungen auf die Kinder,
die in wesentlich komplexeren Familienzusammenhängen und deren Werte- und Regelmix aufwachsen,
vorurteilsfrei auf ihre Vor- und Nachteile.
Zur fünften und letzten Frage: Gibt es etwas, das Sie innerhalb der Psychoanalytischen Ausbildung gern geändert sehen würden?
Die Reflexion von Machtstrukturen ist dauernd im Auge zu behalten, da diese auch in Instituten leicht zum Wuchern neigen,
und das wirkt sich negativ auf Ausbildungskandidaten aus.
Die Vorstellung über lebendige Beziehungen auch in hierarchischen Strukturen,
die wir ja auch in der Ausbildung und für die Arbeit mit Patienten vermitteln möchten,
sollten auch in den Instituten selbst vorgelebt und wirksam werden,
z.B. das Querstehen können mit voller Verantwortung dafür.
Konkret sieht das bei uns am Düsseldorfer Institut so aus, dass in den Sitzungen,
auch da wo über die Kandidaten selbst gesprochen und entschieden wird,
die Vertreter der Ausbildungskandidaten teilnehmen.
Weiter wird über die Ernennung von Lehranalytikern nicht hinter verschlossenen Türen diskutiert,
sondern in Gegenwart der Betreffenden. All das sind Versuche,
Transparenz, Diskussion und Reflexion der Machtstrukturen in unseren Hierarchien zu gewährleisten,
wobei es natürlich auch Spannungen und Rückschläge gibt. Das gehört einfach dazu.
Weitere Veränderungswünsche wären die stärkere Beachtung von Nachbarwissenschaften wie Soziologie,
Politik, Neurobiologie, ohne die Psychoanalyse mit ihnen zu vermischen. Dann die dauernde Reflexion darüber,
welche Theorien sind gerade Mode und gefährden alte, wertvolle Theorien, durch Abwertung,
weil sich die neue Theorie und ihr Erfinder oder ihre Anhänger nur so glauben behaupten zu können.
Wo also versuchen sich neue oder alte Theorien absolut zu setzen?
Überhaupt sollte gerade in der Ausbildung immer auch auf die Gefahr geachtet werden,
dass man nicht mit Theorien gegen Menschen vorgeht, sondern den Mut hat,
den Patienten mit dem eigenen persönlichen und wissenschaftlichen Hintergrund zu begegnen.
Trotzdem sollten auch die neueren Forschungsansätze in der Psychoanalyse noch schneller beachtet,
kritisch reflektiert und in die Ausbildung integriert werden.
Erschienen in: Wolfgang Mertens (Hg): Der Beruf des Psychoanalytikers Klett-Cotta 1997
Literatur
Beck U und Beck-Gernsheim E (1994): Riskante Freiheiten. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Fechner G T: (1873) Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen. Breitkopf& Härtel, Leipzig. (Unveränderter Nachdruck 1985, Edition Discord, Tübingen)
Heidelberger M (1990): Selbstorganisation im 19.Jahrhundert. In: Krohn W und Küppers G (Hrsg): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution. Viewg, Braunschweig Wiesbaden
König K (1981): Angst und Persönlichkeit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Luhmann N (1994): Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität. In: Riskante Freiheiten. Beck U und Beck-Gernsheim E (Hrsg.) Suhrkamp, Frankfurt am Main
Plänkers T (1986): Psychoanalyse und Systemtheorie. Psyche, 40, S. 695
Rauschenbach T (1994): Inszenierte Solidarität: Soziale Arbeit in der Risikogesellschaft. In: Beck U und Beck-Gernsheim E (Hrsg): Riskante Freiheiten. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Rudolf G et al.(1995): Struktur und strukturelle Störung. Zsch psychosom Med, 41, S.197-212
Sies C und Brocher T (1986): Die Bedeutung der Autopoiese für die Metapsychologie. Jahrb der Psychoanalyse, Bd. 19, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstadt
Sies C und Wendl-Kempmann G (1990): Balint-Gruppenarbeit mit Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten. Die Balint-Gruppe in Klinik und Praxis, Bd.5, Springer, Berlin Heidelberg
Sies C und Brocher T (1990): Psychoanalyse und Psychotherapie im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Kontrolle. Vortrag auf dem Forum 33 der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie e.V. "Psychoanalyse und systemisches Denken".
Sies C (1994): Die Gruppenleiterin - Wahrnehmungsdifferenzen aus weiblicher Perspektive. Psychotherapie Forum, 1: 215-219, Springer Verlag Wien New York
Sies C (1995): Die Liebe zwischen Hunger und Begehren. Vortrag auf den 2. Psychotherapietagen NRW
Wendl-Kempmann G und Wendl P (1986): Partnerkrisen und Scheidung. Beck Verlag, München
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