DEUTSCH Legasthenie |
aus
: www.duden.de
RATGEBER LEGASTHENIE |
Für Eltern, Lehrer und alle, die diagnostisch oder therapeutisch für das Kind Verantwortung tragen. Mit freundlicher Unterstützung von DUDEN |
1. Was ist Legasthenie?
Eine Mutter aus Bayern beschreibt den langen Weg bis zur Erkenntnis »unser Kind ist Legastheniker«:
»Bilderbücher anschauen? Gerne. Geschichten hören,
Geschichten erzählen? Immer wieder. Nur selber lesen, das möchte Lukas
nicht. In der ersten Klasse, als seine Sandkastenfreundin mit Begeisterung
Einkaufszettel schreibt und erste Bücher liest, bolzt Lukas auf dem Fußballplatz.
Wir finden das in Ordnung. Schließlich gehört er in der Schule zu den
Besten. Erste Zweifel kommen uns am Ende des zweiten Schuljahres. Am Abend beherrscht Lukas das Diktat noch perfekt, am nächsten Tag macht er zehn Fehler. Auch mit neun Jahren liest er noch nicht einmal Comics, und er weigert sich standhaft, selbst kleinste Nachrichten zu entziffern. Die Krise bricht kurze Zeit später über uns herein. Mit einem kurzen, lapidaren Telefonanruf teilt uns die Schulpsychologin das Ergebnis eines Tests mit: Lukas ist Legastheniker, Sie sollten sich um Fördermaßnahmen bemühen. Das kann doch nicht sein, lautet die erste Reaktion meiner Schwiegermutter, bei uns in der Familie ist keiner dumm. Ich reagiere gelassener: Es gibt Schlimmeres. Dann mache ich mich auf die Suche nach Erklärungen.« |
Eine Definition der Weltgesundheitsorganisation
International ist die Legasthenie als »umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens« definiert. Das bedeutet, dass biologische Ursachen das Erlernen von Funktionen beeinträchtigen oder verzögern, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Diese Funktionen müssen aber bis zum Einschulungsalter intakt sein, damit das Kind störungsfrei lesen lernen kann. Die Einschränkungen werden lange vor der Geburt im Entwicklungsgeschehen angelegt (genetisch bedingte familiäre Legasthenie) oder sie entstehen im zeitlichen Umkreis der Geburt durch eine Schädigung, etwa durch Sauerstoffmangel. Anregungen der Sprachentwicklung durch das Elternhaus und Einflüsse der elterlichen Erziehung haben lediglich zusätzliche Bedeutung.
Eine Definition für die Schule
Eltern werden mehr durch die schulischen Probleme ihres Kindes berührt als durch eine internationale Definition. Auch die Schule wird die Schwierigkeiten des Kindes besser erkennen und verstehen können, wenn eine beschreibende Definition sich auf diese Schwierigkeiten bezieht. Daher folgt hier eine Definition mit Erläuterungen, die vor allem die schulischen Probleme der betroffenen Kinder berücksichtigt:
Spezifische oder umschriebene
Lese-Rechtschreib-Schwächen (Legasthenien) sind die in der Schule
auffallenden Erscheinungsbilder partiellen Lernversagens im Lesen und/oder
Rechtschreiben bei nicht beeinträchtigten intellektuellen Lernvoraussetzungen
und – zunächst – besseren Schulleistungen in anderen
Bereichen. Durch fortgesetzte Entmutigung kann die Legasthenie das
Erscheinungsbild allgemeinen Schulversagens annehmen.
Zugrunde liegen diesen Erscheinungsbildern jeweils unterschiedliche Kombinationen von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, Motorik und der sensorischen Integration (Zusammenspiel verschiedener Wahrnehmungsbereiche). So ergeben sich unterschiedliche Schweregrade und Schwerpunkte der Lernschwierigkeiten des einzelnen Kindes. Die Teilleistungsschwächen erschweren insbesondere die Unterscheidung von Buchstabenformen (visuelle Detailerfassung) und/oder die Unterscheidung von ähnlichen Sprachlauten (auditive Diskrimination). Die Teilleistungsschwächen gehen ursächlich auf Erbfaktoren oder auf Hirnreifungsverzögerungen durch Infekte oder andere Risiken zurück, die vor, während oder nach der Geburt aufgetreten sind, bzw. auf das Zusammenwirken beider Ursachen. (DUMMER-SMOCH, 1996). |
Die Entdeckung, dass Schüler nicht aus Dummheit in der Schule versagen, sondern allein wegen einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, führte zur Einrichtung von Leseklassen und zu den ersten Erlassen der Kultusministerien in den verschiedenen Bundesländern.
Verschiedene Gruppen lese-rechtschreib-schwacher Kinder
Bei den Erfahrungen mit den ersten
Legasthenieerlassen ergab sich ein Dilemma: Was machen wir mit den schwachen
Lesern und Rechtschreibern, die im Lesenlernen und Rechtschreiben ebenso
versagen wie legasthene Kinder, deren Rechtschreibleistung jedoch im Rahmen
einer zwar noch durchschnittlichen, für die Grundschule aber relativ schwachen
Intelligenz liegt? Sie weisen keine Diskrepanzen zwischen besseren
Schulleistungen und der zu schwachen Rechtschreibung auf.
Diese Schüler litten und leiden nicht an einer Legasthenie, sondern daran, dass
im Leseunterricht auf leistungsschwächere Kinder keine Rücksicht genommen
wurde. Lesenlernen »im Gleichschritt« prägte damals den Anfangsunterricht,
sodass diese schwachen Leser in der Schule früh auffielen. Kinder wie Lukas
hingegen, die ihre Fibel sehr schnell auswendig lernten, weil sie mit dem mühevollen
Erlesen Laut für Laut nicht zurechtkamen, wurden in der Schule häufig nicht
bemerkt. Sie »konnten« alles lesen, was die Schule abforderte, und da sie
sonst gute Schüler waren, gab es keinen Verdacht auf Lernschwierigkeiten.
Um den Vorwurf zu entkräften, mit den Bestimmungen zur Förderung legasthener
Kinder werde eine ohnehin (durch die relativ hohe Intelligenz und ein gutes häusliches
Umfeld) begünstigte Gruppe zusätzlich bevorzugt, einigte sich die
Kultusministerkonferenz 1978 auf Formulierungen, in denen die schwächer
intelligenten lese- und rechtschreibschwachen Kinder in den Vordergrund gerückt
wurden. Aus entsprechenden Untersuchungen von Psychologen war bekannt, dass es
sich bei dieser Gruppe um häuslich benachteiligte Kinder handelt, deren Eltern
ihnen wenig Sprachanregungen und keine Leseinteressen vermitteln konnten.
Infolgedessen, so nahmen die Vertreter der Kultusministerkonferenz an, sei es nötig,
den Erstleseunterricht sprachanregend zu gestalten, auf langsamer lernende
Kinder im Unterricht verstärkt einzugehen und eine Förderung der Leseschwachen
im Sinne vertieften Deutschunterrichts durch zusätzliches Lese- und
Rechtschreibtraining durchzuführen.
Es wurde erwartet, dass unter den Voraussetzungen dieser Förderung alle Schüler
bis zum Ende der vierten Klasse das Lesen und Rechtschreiben erlernen, sodass
allenfalls noch in Ausnahmefällen eine Förderung in den Klassenstufen 5 und 6
nötig sei. Kinder wie Lukas, die eigentlich legasthenen Schüler aber, deren
Schwierigkeiten im Lesenlernen so früh gar nicht auffallen und die gerade wegen
der unerkannten Legasthenie sehr bald Schullaufbahnprobleme bekommen, sind dabei
nicht berücksichtigt.
Die Schulwirklichkeit hat in den vergangenen 20 Jahren gezeigt, dass bis heute
weder die schwachen Leser mit relativ niedriger Intelligenz das Lesen und
Rechtschreiben bis zum Ende der 4. Klasse ausreichend erlernen, noch die
begabteren Legastheniker angemessene Hilfen erhalten. Vielmehr ist in einer
Reihe von Bundesländern das Verständnis für Schüler mit diskrepantem
Erscheinungsbild »guter Schüler – schwacher Rechtschreiber« verloren
gegangen.
Das Schulsystem muss selbstverständlich für alle Gruppen mit Leselernproblemen
angemessene Hilfen organisieren. Allerdings ist es notwendig, diese Hilfen auf
die unterschiedlichen Bedürfnisse der jeweils betroffenen Kinder auszurichten.
Den Unterschied zwischen den schwächer begabten schwachen Lesern und
Rechtschreibern und den meist begabteren legasthenischen Schülern beschreibt
eine Kurzinformation des Landesverbandes Legasthenie Schleswig-Holstein,
die in Tabelle 1 wiedergegeben ist.
Ein Beispiel für die Auswirkungen von überdauernden Teilleistungsschwächen
gibt der Pädagoge Peter Struck: »Rotgrünblinde Kinder sind beim Erdbeerpflücken
langsamer, und sie pflücken mehr unreife Früchte als andere, weil sie die
reifen von den unreifen und die Früchte von den Blättern nicht so schnell, vor
allem aber sowieso allenfalls über das Fühlen unterscheiden können. Sollte
man ihnen in einem Fach Erdbeerpflücken deshalb eine schlechte Note geben und
sie ständig dazu ermahnen, sich mehr Mühe zu geben?« (1996, S. 216).
Tabelle 1: Schwierigkeiten und überdauernde Schwächen | ||
Lese- und/oder Rechtschreibprobleme | ||
---|---|---|
vorübergehende Schwierigkeiten |
überdauernde Schwächen | |
vorübergehende Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, z. B. durch Krankheit, Schulwechsel, seelische Belastungen, Übungsmangel, Methodenfehler (zu rasches Fortschreiten im Unterricht) |
ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Schwächen bei deutlich besseren Lernvoraussetzungen: Legasthenie | Lese-Rechtschreib-Schwächen im Rahmen allgemeiner Minderbegabung |
Schüler mit vorübergehenden Schwierigkeiten | Die eigentlichen Legastheniker | Allgemein minderbegabte Schüler |
|
|
|
> Helfen können ein konsequent durchgeführter, langsamer Leselehrgang und später ein zusätzliches Rechtschreibtraining. | > Legastheniker brauchen ein spezielles Training, das ihre jeweiligen Teilleistungsschwächen berücksichtigt, damit ihr Bildungsanspruch auf eine Schullaufbahn, die ihren intellektuellen Fähigkeiten entspricht, nicht gefährdet ist. | > Die für diese Kinder notwendige Hilfe findet sich in einem auf zwei Schuljahre gedehnten Leseunterricht in der Sonderschule oder Förderschule für allgemein Lernbehinderte. |
2. Ursachen legasthener Erscheinungsbilder
Legasthenie Inhalt zurück zur DEUTSCH Titelseite