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 Legasthenie Inhalt

aus: www.duden.de


RATGEBER
LEGASTHENIE

Für Eltern, Lehrer und alle, die diagnostisch oder therapeutisch für das Kind Verantwortung tragen.

Mit freundlicher Unterstützung von DUDEN
Erarbeitet von Dr. Lisa Dummer-Smoch in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Helmut Breuer und Dr. Maria Weuffen


Inhalt
  1. Was ist Legasthenie?
    Eine Definition der Weltgesundheitsorganisation
    Eine Definition für die Schule
    Verschiedene Gruppen lese-rechtschreib-schwacher Kinder

  2. Ursachen legasthener Erscheinungsbilder
    Forschungsergebnisse zur visuellen und auditiven Verarbeitung
    Spezielle Forschungsergebnisse aus Deutschland
    Legasthenieursachen und spezielle Begabungen

  3. Möglichkeiten der Hilfe in Kindergarten und Schule
    Möglichkeiten einer Frühförderung legasthener Kinder bereits im Vorschulalter
    Frühförderung im Leselernprozess
    Auffälligkeiten in der weiteren Schullaufbahn

  4. Wie können Lehrer und Eltern helfen?
    Spiele zur Vorbereitung auf das Lesen und Schreiben
    Lesenlernen mit Lautgebärden
    Rechtschreibenüben mit der »Pilotsprache«
    Außerschulische Hilfen

  5. Haben Legastheniker auch Rechte?
    Zugang zu Realschulen und Gymnasien für Legastheniker?
    Rechtsgrundlage: Artikel 3 des Grundgesetzes
    Der Bildungsanspruch des Legasthenikers

    Literatur

 
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1. Was ist Legasthenie?

Eine Mutter aus Bayern beschreibt den langen Weg bis zur Erkenntnis »unser Kind ist Legastheniker«:
»Bilderbücher anschauen? Gerne. Geschichten hören, Geschichten erzählen? Immer wieder. Nur selber lesen, das möchte Lukas nicht. In der ersten Klasse, als seine Sandkastenfreundin mit Begeisterung Einkaufszettel schreibt und erste Bücher liest, bolzt Lukas auf dem Fußballplatz. Wir finden das in Ordnung. Schließlich gehört er in der Schule zu den Besten.

Erste Zweifel kommen uns am Ende des zweiten Schuljahres. Am Abend beherrscht Lukas das Diktat noch perfekt, am nächsten Tag macht er zehn Fehler. Auch mit neun Jahren liest er noch nicht einmal Comics, und er weigert sich standhaft, selbst kleinste Nachrichten zu entziffern. Die Krise bricht kurze Zeit später über uns herein. Mit einem kurzen, lapidaren Telefonanruf teilt uns die Schulpsychologin das Ergebnis eines Tests mit: Lukas ist Legastheniker, Sie sollten sich um Fördermaßnahmen bemühen.

Das kann doch nicht sein, lautet die erste Reaktion meiner Schwiegermutter, bei uns in der Familie ist keiner dumm. Ich reagiere gelassener: Es gibt Schlimmeres. Dann mache ich mich auf die Suche nach Erklärungen.«
Für Eltern kommt der Verdacht, ihr Kind könne beim Lesenlernen Schwierigkeiten haben, obwohl es sonst ganz begabt erscheint, oftmals unerwartet. Genau dieser Fall aber ist gemeint, wenn man von einer »isolierten Lese-Rechtschreib-Schwäche« (LRS) oder »Legasthenie« spricht: Es handelt sich um die Lese- und Rechtschreibschwäche bei einem Kind, »das nicht dumm ist«.

Manchmal führt die Diagnose zur Erlösung von Zweifeln (»ist mein Kind vielleicht dumm?«) und von Schuldgefühlen (»hätte ich mehr tun sollen?«). Wegen der unterschiedlichen schulrechtlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern wird nicht immer die Schule selbst den Verdacht aussprechen. Auch nicht jeder Schulpsychologe ist bereit, eine Untersuchung zur Klärung des Legasthenieverdachts durchzuführen. Beide, Schule und Schulpsychologie sollten dennoch erste Ansprechpartner sein. Denn auch den Lehrerinnen und Lehrern wird aufgefallen sein, dass das Kind Anforderungen der Schule erfüllen kann, solange es sich nicht um Lesen und Schreiben handelt. Wird aber von dieser Seite beschwichtigend reagiert (»Sie müssen nicht zu viel erwarten« oder »das wächst sich noch zurecht«), dann sollten die Eltern unverzüglich außerschulisch Hilfe suchen. Der Legasthenieverdacht lässt sich durch eine psychologische Untersuchung bei einem Kinder- und Jugendpsychiater oder bei einem Kinderpsychologen leicht abklären. Was aber dann? Was bedeutet eine Legasthenie für das Kind, seine Schul- und spätere Berufslaufbahn und für die Eltern?

In diesem Ratgeber soll zunächst auf die Erscheinungsbilder und auf Forschungsergebnisse zu den Ursachen eingegangen werden. Dann folgt ein Abschnitt über Frühförderung im Vorschulalter, der den Eltern helfen soll, Erzieherinnen im Kindergarten anzusprechen. Anschließend geht es um Früherkennung und Hilfen im Leselernprozess der Schule. Aus diesem Abschnitt können Eltern auch für die häusliche Unterstützung des Kindes Hinweise entnehmen. Des Weiteren werden Informationen zu den Handikaps legasthener Kinder gegeben, die in der Schule beobachtbar sind und auf die die Eltern die Schule ansprechen sollten.

Der letzte Abschnitt des Ratgebers vermittelt konkrete Hilfen, die Eltern zu Hause umsetzen können, sowie einen Überblick über die Erlasse der verschiedenen Länder der Bundesrepublik.

 
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Eine Definition der Weltgesundheitsorganisation

International ist die Legasthenie als »umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens« definiert. Das bedeutet, dass biologische Ursachen das Erlernen von Funktionen beeinträchtigen oder verzögern, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Diese Funktionen müssen aber bis zum Einschulungsalter intakt sein, damit das Kind störungsfrei lesen lernen kann. Die Einschränkungen werden lange vor der Geburt im Entwicklungsgeschehen angelegt (genetisch bedingte familiäre Legasthenie) oder sie entstehen im zeitlichen Umkreis der Geburt durch eine Schädigung, etwa durch Sauerstoffmangel. Anregungen der Sprachentwicklung durch das Elternhaus und Einflüsse der elterlichen Erziehung haben lediglich zusätzliche Bedeutung.

 
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Eine Definition für die Schule

Eltern werden mehr durch die schulischen Probleme ihres Kindes berührt als durch eine internationale Definition. Auch die Schule wird die Schwierigkeiten des Kindes besser erkennen und verstehen können, wenn eine beschreibende Definition sich auf diese Schwierigkeiten bezieht. Daher folgt hier eine Definition mit Erläuterungen, die vor allem die schulischen Probleme der betroffenen Kinder berücksichtigt:
Spezifische oder umschriebene Lese-Rechtschreib-Schwächen (Legasthenien) sind die in der Schule auffallenden Erscheinungsbilder partiellen Lernversagens im Lesen und/oder Rechtschreiben bei nicht beeinträchtigten intellektuellen Lernvoraussetzungen und – zunächst – besseren Schulleistungen in anderen Bereichen. Durch fortgesetzte Entmutigung kann die Legasthenie das Erscheinungsbild allgemeinen Schulversagens annehmen.

Zugrunde liegen diesen Erscheinungsbildern jeweils unterschiedliche Kombinationen von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, Motorik und der sensorischen Integration (Zusammenspiel verschiedener Wahrnehmungsbereiche). So ergeben sich unterschiedliche Schweregrade und Schwerpunkte der Lernschwierigkeiten des einzelnen Kindes.

Die Teilleistungsschwächen erschweren insbesondere die Unterscheidung von Buchstabenformen (visuelle Detailerfassung) und/oder die Unterscheidung von ähnlichen Sprachlauten (auditive Diskrimination).

Die Teilleistungsschwächen gehen ursächlich auf Erbfaktoren oder auf Hirnreifungsverzögerungen durch Infekte oder andere Risiken zurück, die vor, während oder nach der Geburt aufgetreten sind, bzw. auf das Zusammenwirken beider Ursachen. (DUMMER-SMOCH, 1996).

In den Definitionen der Legasthenieforscher in den Jahren 1950 bis 1970 wurde vor allem die Diskrepanz zwischen zu schwacher Lese- und Rechtschreibleistung und besserer Intelligenz hervorgehoben. Damals war die Erfahrung neu, dass es normal begabte Kinder mit genau den Leselern- und Rechtschreibproblemen gibt, die man sonst bei allgemein lernbehinderten Kindern beobachtet hatte.

Die Entdeckung, dass Schüler nicht aus Dummheit in der Schule versagen, sondern allein wegen einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, führte zur Einrichtung von Leseklassen und zu den ersten Erlassen der Kultusministerien in den verschiedenen Bundesländern.

 
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Verschiedene Gruppen lese-rechtschreib-schwacher Kinder

Bei den Erfahrungen mit den ersten Legasthenieerlassen ergab sich ein Dilemma: Was machen wir mit den schwachen Lesern und Rechtschreibern, die im Lesenlernen und Rechtschreiben ebenso versagen wie legasthene Kinder, deren Rechtschreibleistung jedoch im Rahmen einer zwar noch durchschnittlichen, für die Grundschule aber relativ schwachen Intelligenz liegt? Sie weisen keine Diskrepanzen zwischen besseren Schulleistungen und der zu schwachen Rechtschreibung auf.

Diese Schüler litten und leiden nicht an einer Legasthenie, sondern daran, dass im Leseunterricht auf leistungsschwächere Kinder keine Rücksicht genommen wurde. Lesenlernen »im Gleichschritt« prägte damals den Anfangsunterricht, sodass diese schwachen Leser in der Schule früh auffielen. Kinder wie Lukas hingegen, die ihre Fibel sehr schnell auswendig lernten, weil sie mit dem mühevollen Erlesen Laut für Laut nicht zurechtkamen, wurden in der Schule häufig nicht bemerkt. Sie »konnten« alles lesen, was die Schule abforderte, und da sie sonst gute Schüler waren, gab es keinen Verdacht auf Lernschwierigkeiten.

Um den Vorwurf zu entkräften, mit den Bestimmungen zur Förderung legasthener Kinder werde eine ohnehin (durch die relativ hohe Intelligenz und ein gutes häusliches Umfeld) begünstigte Gruppe zusätzlich bevorzugt, einigte sich die Kultusministerkonferenz 1978 auf Formulierungen, in denen die schwächer intelligenten lese- und rechtschreibschwachen Kinder in den Vordergrund gerückt wurden. Aus entsprechenden Untersuchungen von Psychologen war bekannt, dass es sich bei dieser Gruppe um häuslich benachteiligte Kinder handelt, deren Eltern ihnen wenig Sprachanregungen und keine Leseinteressen vermitteln konnten. Infolgedessen, so nahmen die Vertreter der Kultusministerkonferenz an, sei es nötig, den Erstleseunterricht sprachanregend zu gestalten, auf langsamer lernende Kinder im Unterricht verstärkt einzugehen und eine Förderung der Leseschwachen im Sinne vertieften Deutschunterrichts durch zusätzliches Lese- und Rechtschreibtraining durchzuführen.

Es wurde erwartet, dass unter den Voraussetzungen dieser Förderung alle Schüler bis zum Ende der vierten Klasse das Lesen und Rechtschreiben erlernen, sodass allenfalls noch in Ausnahmefällen eine Förderung in den Klassenstufen 5 und 6 nötig sei. Kinder wie Lukas, die eigentlich legasthenen Schüler aber, deren Schwierigkeiten im Lesenlernen so früh gar nicht auffallen und die gerade wegen der unerkannten Legasthenie sehr bald Schullaufbahnprobleme bekommen, sind dabei nicht berücksichtigt.

Die Schulwirklichkeit hat in den vergangenen 20 Jahren gezeigt, dass bis heute weder die schwachen Leser mit relativ niedriger Intelligenz das Lesen und Rechtschreiben bis zum Ende der 4. Klasse ausreichend erlernen, noch die begabteren Legastheniker angemessene Hilfen erhalten. Vielmehr ist in einer Reihe von Bundesländern das Verständnis für Schüler mit diskrepantem Erscheinungsbild »guter Schüler – schwacher Rechtschreiber« verloren gegangen.

Das Schulsystem muss selbstverständlich für alle Gruppen mit Leselernproblemen angemessene Hilfen organisieren. Allerdings ist es notwendig, diese Hilfen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der jeweils betroffenen Kinder auszurichten. Den Unterschied zwischen den schwächer begabten schwachen Lesern und Rechtschreibern und den meist begabteren legasthenischen Schülern beschreibt eine Kurzinformation des Landesverbandes Legasthenie Schleswig-Holstein, die in Tabelle 1 wiedergegeben ist.

Ein Beispiel für die Auswirkungen von überdauernden Teilleistungsschwächen gibt der Pädagoge Peter Struck: »Rotgrünblinde Kinder sind beim Erdbeerpflücken langsamer, und sie pflücken mehr unreife Früchte als andere, weil sie die reifen von den unreifen und die Früchte von den Blättern nicht so schnell, vor allem aber sowieso allenfalls über das Fühlen unterscheiden können. Sollte man ihnen in einem Fach Erdbeerpflücken deshalb eine schlechte Note geben und sie ständig dazu ermahnen, sich mehr Mühe zu geben?« (1996, S. 216).
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Dass Schüler, die an einer Legasthenie leiden, sehr unterschiedliche Teilleistungsschwächen kompensieren, d. h. »in den Griff« bekommen müssen, lässt sich heute durch eine große Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen belegen.
 

Tabelle 1: Schwierigkeiten und überdauernde Schwächen
Lese- und/oder Rechtschreibprobleme
vorübergehende
Schwierigkeiten
überdauernde
Schwächen
vorübergehende Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten,
z. B. durch Krankheit, Schulwechsel, seelische Belastungen, Übungsmangel, Methodenfehler (zu rasches Fortschreiten im Unterricht)
ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Schwächen bei deutlich besseren Lernvoraussetzungen: Legasthenie Lese-Rechtschreib-Schwächen im Rahmen allgemeiner Minderbegabung
Schüler mit vorübergehenden Schwierigkeiten Die eigentlichen Legastheniker Allgemein minderbegabte Schüler
  • sind für den Besuch einer Grundschule zwar nicht zu schwach begabt, haben aber bei knapp durchschnittlicher Intelligenz Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen und dem Rechtschreiben,
  • kommen häufiger aus Elternhäusern, die nicht helfen können,
  • haben in der Regel keine Schullaufbahnprobleme, sofern sie lesen gelernt haben.
  • müssen Teilleistungsschwächen kompensieren,
  • laufen Gefahr, durch die Lese-Rechtschreib-Schwäche zunehmend auch in den Sachfächern nicht zurechtzukommen, da sie z. B. Textaufgaben in Mathematik nicht lesen können.
  • lernen alle schulischen Fertigkeiten – Lesen, Schreiben, Rechnen – sehr schwer,
  • gehören einer sehr kleinen Gruppe an: Unter 80 Kindern, die die erste Klasse der Grundschule wiederholt hatten, fand man nur 15 Prozent sonderschulbedürftiger Kinder (Dummer 1982).
> Helfen können ein konsequent durchgeführter, langsamer Leselehrgang und später ein zusätzliches Rechtschreibtraining. > Legastheniker brauchen ein spezielles Training, das ihre jeweiligen Teilleistungsschwächen berücksichtigt, damit ihr Bildungsanspruch auf eine Schullaufbahn, die ihren intellektuellen Fähigkeiten entspricht, nicht gefährdet ist. > Die für diese Kinder notwendige Hilfe findet sich in einem auf zwei Schuljahre gedehnten Leseunterricht in der Sonderschule oder Förderschule für allgemein Lernbehinderte.

2. Ursachen legasthener Erscheinungsbilder  

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