DEUTSCH Legasthenie |
Die Schule ist für die Lernerfolge aller Kinder verantwortlich, denn sie hat das Monopol für Bildung. In früheren Jahrzehnten versuchten Bildungspolitiker, diesem Anspruch auch gerecht zu werden, indem besondere Schul- und Unterrichtsformen für verschiedene Behinderungen geschaffen wurden: Schulen für Körperbehinderte, Schulen für Seh-, Hör- und Sprachbehinderte. In der DDR galt die Legasthenie als zentrale Sprachbehinderung. Dort wurden spezielle LRS-Klassen an Sprachheilgrundschulen eingerichtet. In den Jahren vor 1970 und teilweise darüber hinaus richteten auch einige der alten Bundesländer LRS-Klassen für leserechtschreib-schwache Schüler ein, so in Baden-Württemberg (Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart), in Hamburg, in Niedersachsen (Hannover) und in Nordrhein-Westfalen (Bonn, Düsseldorf, Köln). Zudem gab es an vielen Orten einen spezifischen Förderunterricht für legasthene Kinder, der von gut geschulten Sonder- oder Grundschullehrern erteilt wurde. Die damals erzielten Erfolge sind belegbar.
Seit den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1978 aber hat sich in der Mehrzahl der alten Bundesländer die schulrechtliche Lage geändert. Die neuen Auffassungen zur Lese- Rechtschreibschwäche ließen es unnötig erscheinen, besondere Klassen für Kinder einzurichten, deren Leselernprobleme mit einem verbesserten Erstleseunterricht und ggf. »zusätzlichem Lese- und Rechtschreibtraining« bis zum Ende der Grundschulzeit – vermeintlich – zu lösen waren.
Seither sehen schulrechtliche Regelungen überwiegend eine Förderung während der Grundschulzeit vor. Jedoch soll das »zusätzliche Lese- und Rechtschreibtraining« durch den Klassen- oder Deutschlehrer erfolgen, also nicht durch speziell aus- oder fortgebildete Lehrkräfte. In den meisten Erlassen wird die Bewertung der Rechtschreibung bei Kindern, die einen Förderkurs besuchen, während der Grundschulzeit ausgesetzt. Diktate sollen entweder allein oder zusätzlich zur Note mit einer verbalen Beschreibung des Lernfortschritts versehen werden. In den Zeugnissen sind die Rechtschreibleistungen bei der Festsetzung der Deutschnote »zurückhaltend zu gewichten«, eine watteweiche Empfehlung!
In den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es weiterhin LRS-KLassen, in die Kinder mit einer diagnostizierten schweren Legasthenie aufgenommen werden. Das Land Brandenburg hat seine LRS-Klassen bis auf einen Schulversuch aufgelöst. Baden-Württemberg ist das einzige westliche Bundesland, in dem noch LRS-Klassen bestehen. In Schleswig-Holstein wurden angesichts der Not von Kindern, die nicht lesen gelernt hatten, Lese-Intensivmaßnahmen eingerichtet, bisher ohne schulrechtliche Grundlage. Der Zugang zu LRS-Klassen wie zu Lese-Intensivmaßnahmen setzt im Allgemeinen voraus, dass die Grundschullehrerinnen und -lehrer die Schulschwierigkeiten des Kindes als Legasthenie erkennen und einordnen können.
Am Beispiel von Lukas wird deutlich, dass die allgemeinen Lernvoraussetzungen des legasthenen Kindes, aber auch sein eigener Leistungsanspruch, häufig für eine Schullaufbahn in einer Realschule oder einem Gymnasium sprechen. Daher ist es wichtig zu sehen, in welchen Bundesländern und wie weit die Bestimmungen zur Hilfe für Legastheniker über die Grundschule hinausgehen. In Bezug auf den Zugang zu Realschulen und Gymnasien gibt es in den verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Regelungen. Es stellt sich die Frage, in welchem der Bundesländer ein legasthener Schüler im Regelschulsystem den Realschulabschluss oder das Abitur erreichen kann. Die folgende Zusammenstellung soll diese Frage beantworten.
Baden-Württemberg:
Im Aufnahmeverfahren in die Realschule und das Gymnasium soll die Legasthenie
berücksichtigt werden. Förderunterricht kann noch in den Klassen 5 und 6
erteilt werden. Kein Notenschutz in weiterführenden Schulen. Jedoch wird
Lehrern »pädagogischer Spielraum bei der Leistungsbeurteilung« eingeräumt.
Bayern:
Beim Übergang in Gymnasien und Realschulen dürfen »Schwierigkeiten im Lesen
und Rechtschreiben ... bei sonst angemessener Gesamtleistung kein Grund sein,
einen Schüler vom Übertritt ... auszuschließen«. Doch gilt dies nur dann, »wenn
Aussichten bestehen, dass diese Schwierigkeiten in absehbarer Zeit behoben
werden können«. Kein Notenschutz in weiterführenden Schulen.
Berlin:
Die Grundschule umfasst die Klassen 1–6. Keine Förderung und kein Notenschutz
nach Klasse 6.
Brandenburg:
Eine Verwaltungsvorschrift bezieht sich nur auf die Klassen 1–6 (Grundschule).
Formal wird Legasthenie nicht anerkannt. Keine Förderung und kein Notenschutz
nach Klasse 6.
Bremen:
LRS darf kein Grund sein, dem Schüler den Zugang zur Realschule oder zum
Gymnasium zu verwehren. Bei Bedarf kann bis zur 13. Klasse Förderunterricht
erteilt werden. Notenschutz ist nach »pädagogischem Ermessen« bis zum Ende
der Klasse 6 möglich.
Hamburg:
Eine Legasthenie wird generell nicht anerkannt. In weiterführenden Schulen gibt
es daher keinen Notenschutz und keine Förderung.
Hessen:
Legasthenie allein ist kein Grund, einem Schüler den Zugang zu Realschulen oder
Gymnasien zu verwehren. Schüler, die an Fördermaßnahmen teilnehmen, erhalten
bis zur Jahrgangsstufe 10 in Diktaten keine Note. In anderen schriftlichen
Arbeiten, auch in den Fremdsprachen, werden Rechtschreibfehler nicht
mitbewertet.
Mecklenburg-Vorpommern:
In der 4. Klasse erfolgt im Hinblick auf die weiterführenden Schulen eine
förmliche Anerkennung. Eine Legasthenie soll den Besuch einer Realschule oder
eines Gymnasiums nicht hindern. Bis zum Ende der Klasse 6 gibt es für
anerkannte Legastheniker Förderung. Notenschutz wird bis zum Ende der Klasse 10
gewährt.
Niedersachsen:
Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche soll weder bei der Versetzung noch beim Zugang
zu einer Schulform ausschlaggebend sein. Förderunterricht ist in den Klassen 5
und 6 noch vorgesehen. Notenschutz gibt es jedoch nur bis zum Ende der 4. Klasse.
In den Klassen 5 und 6 soll zusätzlich zur Note eine schriftliche Aussage
über den Leistungsfortschritt des Schülers erfolgen.
Nordrhein-Westfalen:
»Besondere Schwierigkeiten im Rechtschreiben allein« sollen den Übergang in
eine Realschule oder ein Gymnasium nicht hindern. Fördermaßnahmen sind
generell noch in den Klassen 5 und 6 möglich, »in begründeten Ausnahmefällen«
auch noch in den Klassen 7–10. Mit der Förderung wird auch Notenschutz
gewährt.
Rheinland-Pfalz:
Bei der Empfehlung der Grundschule für die weitere Schullaufbahn soll berücksichtigt
werden, »ob bei sonst überzeugender Gesamtleistung, trotz bestehender
Schwierigkeiten, eine erfolgreiche Teilnahme am Unterricht der empfohlenen
Schule zu erwarten ist«. Keine Förderung und kein Notenschutz in weiterführenden
Schulen.
Saarland:
»Ausnahmsweise, d. h. bei Vorliegen besonderer Gründe, können die
besonderen Fördermaßnahmen in den Klassenstufen 5 und 6 fortgesetzt werden«,
auch in Realschulen und Gymnasien. Der Notenschutz endet mit dem ersten Halbjahr
in Klassenstufe 6.
Sachsen:
Nur für Kinder deren Legasthenie im Zusammenhang mit der Aufnahme in eine
LRS-Klasse diagnostiziert worden ist, gibt es bis zum Ende der Klasse 6
Notenschutz in weiterführenden Schulen. Weitere Bestimmungen gibt es nicht.
Sachsen-Anhalt:
Kinder mit festgestellter Legasthenie (im Zusammenhang mit der Aufnahme in eine
LRS-Klasse) können bis zum Ende des ersten Halbjahrs der 7. Klasse von der
Benotung der Rechtschreibleistungen in den Fremdsprachen und im Fach Deutsch
befreit werden.
Schleswig-Holstein:
Im 4. Schuljahr wird ein förmliches Anerkennungsverfahren durchgeführt,
durch das der Zugang zu einer Schulform ermöglicht werden soll, die den
Begabungen des Kindes entspricht. Förderunterricht soll in den Klassen 5 und 6
in allen Schularten erteilt werden und auch die erste Fremdsprache berücksichtigen.
Notenschutz wird für anerkannte Legastheniker bis zum Ende der 10. Klasse
(auch im Realschulabschluss) gewährt.
Thüringen:
Legastheniker können nach entsprechender Diagnose während der Grundschulzeit
LRS-Klassen besuchen. Für weiterführende Schulen gibt es noch keine
Bestimmungen.
Fragt man abschließend noch einmal, in welchem Land Lukas ohne unnötige Schuljahrswiederholungen und ohne den Umweg über den zweiten Bildungsweg das Abitur erreichen könnte, dann bieten sich eigentlich nur die Länder an, in denen nach einem förmlichen Feststellungsverfahren auch in weiterführenden Schulen Notenschutz bis zum Ende der 10. Klasse gewährt wird (Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein). Auch in Hessen kann mit Glück noch eine erfolgreiche Schullaufbahn trotz einer Legasthenie erwartet werden, doch ist unklar, wie Schüler festgestellt werden, die an Fördermaßnahmen teilnehmen dürfen und dann den Notenschutz genießen. Ebenso erlauben die Regelungen von Nordrhein-Westfalen, allerdings nur »in begründeten Ausnahmefällen« Förderung und damit Notenschutz bis zum Ende der 10. Klasse.
Dennoch wäre Lukas in Hessen und
Nordrhein-Westfalen immer noch besser dran als in Bayern. Dass die Legasthenie
in einem Schulsystem überhaupt anerkannt und berücksichtigt wird, kann ihm
wenigstens das Gefühl nehmen, einer negativ bewerteten Minderheit anzugehören.
Seine Mutter schreibt abschließend:
»Die Klasse wiederholen oder abgehen? Lukas
hat sich entschieden. Er will weiterkämpfen. Ich bewundere seinen Mut. Als kürzlich
ein Freund über ein paar Schreibfehler lachte, brauchte Lukas keine zwei
Sekunden für die Antwort: Na und? Ich bin Legastheniker, und du kannst
keine Tore schießen!« (Sabine Woeckel, Eltern for family 11/1986) |
Die Länder müssten sich trotz ihrer Kulturhoheit in einer so dringlichen Frage wie der schulrechtlichen Behandlung einer begabten, aber behinderten Minderheit einigen können. Im Grundgesetz steht in Artikel 3, Absatz 3 der Satz:
»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.«
In Verbindung mit der Schulpflicht, die die Schulgesetze der Länder regeln, müsste dieser Satz ausreichen, um die heutigen Benachteiligungen der Legastheniker im Schulsystem aufzuheben. Es gibt allerdings mehrere Hinderungsgründe für das Problemverständnis in Kultusbehörden wie Schulen:
Demgegenüber sind rechtschreibliche Leistungen im deutschen Schulsystem immer noch ausschlaggebend für die Schullaufbahn. Angesichts der nichtsprachlichen Begabungen legasthener Schüler muss dieses Schulsystem daher bisher als ungeeignet gelten, den grundgesetzlich verankerten Bildungsanspruch dieser begabten Minderheit zu erfüllen!
Viele ehemals legasthene Erwachsene haben über langwierige zweite Bildungswege dennoch Studienabschlüsse in Physik, Maschinenbau, Medizin und selbst in sprachlichen Fächern erreicht. Namhafte Schriftsteller wie Eike Christian Hirsch und Michael Holzach waren Legastheniker! Solche langen Bildungswege belasten völlig unnötig die Volkswirtschaft, nicht allein wegen der verlängerten Schulzeit, sondern auch wegen des verspäteten Berufseintritts und einer entsprechend verkürzten Lebensarbeitszeit. Dabei sind die seelischen Belastungen durch das unnötige Schulversagen als noch wesentlich schwerwiegender einzuschätzen. Was tut unser Schulsystem dieser begabten Minderheit an und mit welchem Recht?
Betrachten wir es einmal so: Das Gehirn eines Legasthenikers weist eine geringfügig abweichende »Arbeitsweise« auf. Gäbe es keine Schriftsprache, wäre diese Abweichung ohne Belang. Sie behindert jedoch das Lesen- und Schreibenlernen. In schweren Fällen lässt sie es zur Tortur werden. Bei früher Behandlung können die Folgen wesentlich einfacher behoben werden. Der Legastheniker trainiert quasi Umwege der Wahrnehmung und ist dann in der Lage, beim Lesen und Schreiben Gleiches wie seine Mitmenschen zu leisten. Bleibt die frühe Hilfe aus, kann die Rechtschreibunsicherheit den Legastheniker sein ganzes Leben lang belasten.
In Erfolgskontrollen über Lese-Intensivmaßnahmen wurde gefunden, dass leichtere Schweregrade von Legasthenie durch 12-wöchige Intensivkurse gut gebessert werden konnten. Bei höheren Schweregraden ist eine längerfristige intensive Förderung notwendig, wie sie die LRS-Klassen bieten. Nach diesen Maßnahmen reicht der Notenschutz für die Rechtschreibung aus, um eine begabungsgerechte Schullaufbahn zu sichern.
An schwerer Legasthenie leiden 34 Prozent der Menschen. Sie werden in unserer Kultur, in der Lesen und Schreiben Schlüsselqualifikationen sind, recht brutal ihrer Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Sie gelten als dumm, auch wenn sie hoch begabt sind. Ihr logisches Denkvermögen und ihre konstruktiv-technischen Begabungen sind sogar im Durchschnitt höher entwickelt als die ihrer Mitmenschen. Aber selbst auf ihren besonderen Begabungsfeldern haben Legastheniker keine Chancen, denn bis zum Ende der 7. Klassenstufe überwiegen im Schulsystem die sprachlichen/schriftsprachlichen Anforderungen. Viele Legastheniker scheitern in der für sie angemessenen Schulart, bevor sie ihre mathematisch-naturwissenschaftlichen und technisch-konstruktiven Fähigkeiten überhaupt unter Beweis stellen können!
Bis zu 10 Prozent Legastheniker leben unter uns, wenn man auch die leichteren Fälle mit einbezieht. Selbst eine »leichte Legasthenie« hat in unserem Bildungssystem keineswegs nur geringfügige Auswirkungen. Bei Unwissenheit von Lehrern und Eltern sind sie schwerwiegend: Das »gymnasiale Kind« landet auf der Hauptschule, bei mittlerer Begabung wird nicht einmal ein Schulabschluss erreicht.
Das Schicksal der weithin nicht geförderten Legastheniker ist unverantwortlich schwer. Bereits im Kindesalter entwickeln sich wegen andauernder Misserfolge Selbstwertdefizite, ja sogar Schuldprobleme, »nicht richtig zu funktionieren«. In extremen Fällen ist es zum Selbstmord gekommen.
Hat ein nicht gefördertes legasthenisches Kind die Schule im wahrsten Sinne des Wortes überlebt, beginnt eine neue Tortur: die soziale Rolle zu finden, die in unserer Gesellschaft vorrangig durch den Beruf geprägt ist. Der begabte Legastheniker wird mangels formaler Qualifikation in Berufe gedrängt, die seine Geistesgaben nicht beanspruchen. Der durchschnittlich begabte Legastheniker hat oft nur Aussicht auf schlecht bezahlte Arbeitsplätze. Nicht selten ist er von Arbeitslosigkeit bedroht.
Mit der Diskrepanz zwischen Begabung einerseits und beruflicher Entwicklung andererseits kann sich ein Legastheniker nicht abfinden. Seine Persönlichkeit drängt nach Ausgleich. Gelingt ihm dies nicht auf konstruktivem und legitimem Wege, kommt es im besten Fall zur Resignation, die in seelische Erkrankungen münden kann, häufig aber auch zu Suchtproblemen oder zum Abrutschen in die Kriminalität.
Die Forderung angemessener schulrechtlicher Regelungen auf der Grundlage des Artikels 3 des Grundgesetzes ist ein Gebot der Mitmenschlichkeit in gleicher Weise, wie man Menschen mit einer Sehschwäche zu einer Brille verhelfen sollte. Solche Regelungen helfen nicht nur den Betroffenen, sondern der Gesellschaft aufgrund einfachster ökonomischer Gesetze: Jugendliche und Erwachsene mit nicht rechtzeitig und angemessen behandelter Legasthenie verursachen erhebliche gesellschaftliche Kosten
Angesichts der Hauptprobleme unserer Zeit Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, Energieversorgung, Sicherung des (technologischen!) Standorts Deutschland stellt sich die Frage, ob es noch verantwortet werden kann, eine prozentual nicht unbedeutende Minderheit auf ihrem Weg durch Schule und Ausbildung nur deswegen scheitern zu lassen, weil sie in der Rechtschreibung den schulischen Anforderungen nicht genügen kann! Diese Minderheit besitzt genau die Begabungen, die für die Lösung unserer Zukunftsprobleme gebraucht werden.
»Die Rechtschreibung«, so formuliert ein Legasthenieforscher, »ist eine sehr unwichtige Leistung im Vergleich mit den Leistungen, die die Herausforderungen des dritten Jahrtausends erfordern!« Nur leider: Das Schulsystem weiß es noch nicht!
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