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Wir vergessen immer wieder, dass wir sind, wie wir sind, weil wir unsere Tradition haben. Unsere individuelle, aus der eigenen Gruppe erwachsene Tradition und unsere gesamtgesellschaftliche, historisch gewachsene Tradition. Wir ahnen vielleicht ihre Bedeutung, setzen uns aber nicht bewusst mit ihr auseinander. Sicher auch, weil es so schwer ist, die einzelnen Auswirkungen der Tradition zu erkennen und zuzuordnen.

 

Der folgende Text eines Professors für Sportpädagogik an der Deutschen Sporthochschule Köln hilft uns in einleuchtender, klar verständlicher Form unser Problem mit der Tradition im Allgemeinen und bezogen auf den Sport im Besonderen besser zu verstehen.
Dadurch wird unsere Chance größer, uns selbst und den Sport besser zu verstehen.

Vermittlung von Traditionen im Sport als Aufgabe und Problem der Pädagogik
von Dietrich Rainer Quanz

Tradition im Sport

Welche Bedeutung hat die Tradition für das menschliche Leben?

Ist ohne Tradition Erziehung überhaupt möglich?

Wie wirkt die Tradition im Sport?

Hilft die Tradition bei der Vermittlung von Werten?

Wie finden Tradition, aktuelle Gegenwart und angestrebte Zukunft zusammen?

Kann der Sportunterricht auf Tradition verzichten?

Welches Gegengewicht braucht die Tradition?

Wie hilft uns die Tradition bei unserem Sportverständnis?

Mein Hauptanliegen besteht darin zu zeigen, dass Traditionen notwendig sind, dass sie sein müssen und wir gar keine andere Wahl haben. Ich möchte meine Darlegungen in drei Einheiten gliedern, die erste handelt über das Säbelzahn-Curriculum, ein Kapitel aus dem Paläolithikum. Zweitens: Zur Notwendigkeit der Tradition für die Erziehung des Menschen, und der dritte Bereich: Traditionsverständnis im Weitergeben des Sports; wie tradieren wir und welchen Sinn hat die Tradition. Es werden Fragen bleiben müssen.

Ich gebe Ihnen eine Interlinearversion einer Vorlesung eines meiner pädagogischen Vorgänger. Der erste große Praktiker und Theoretiker der Erziehung, von dem man Kenntnis hat, ist ein Mann aus der Altsteinzeit. Man nannte ihn Neuer Faustkeilmacher. Ich nenne ihn hier Neuefaust. Er war ein Tatmensch, er hatte feine, birnenförmige Formen des Faustkeils erfunden, er hatte besonders zweckmäßige Keulen erfunden, er hatte besondere Techniken für den Gebrauch des Feuers entwickelt. Sie bestachen in ihrer Einfachheit und Präzision. Er war, weil er die Kraft hatte, neue Ideen zu verwirklichen und umzusetzen, in der Altsteinzeit ein gebildeter Mann. Er war aber auch ein Denker, starrte lange ins Feuer, staunte über Verschiedenes und wurde unzufrieden mit seinem Leben und dem seines Stammes, seiner Familie. Er überlegte, was er besser machen konnte in diesem System. Vor diesem Hintergrund ist er der erste, der auf das Konzept einer bewussten Erziehung stößt. Er beobachtet die Kinder und ihr Heranwachsen in die Erwachsenengesellschaft und stellt fest, dass es ihnen schwer fällt, Tätigkeiten der Erwachsenen zu vollenden, dass sie Schwierigkeiten haben, die Versorgung des Stammes aufrecht zu erhalten, er überlegt, wenn er nun die Kinder dazu bringen könnte, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, dass sie nachher mehr Nahrung anschaffen können, besseren Wohnraum, wärmere Kleidung besäßen, und dass sie Gefahren, denen der Stamm ausgesetzt sein kann, besser abwenden können, insbesondere die Gefahr durch den gestreiften Tod.

Mit diesen Überlegungen hat er ein Erziehungsziel gesetzt: Er wollte das Leben seines Stammes verbessern. Danach überlegte er, wie er daraus ein Curriculum konstruieren könnte. Wieder beobachtete er das Leben seines Stammes. Seine erste Beobachtung: Wir müssen im Teich jenseits der großen Flussbiegung Fische grapschen mit bloßen Händen - das ist unsere Nahrung: also ist das der erste Gegenstand des Altsteinzeit-Curriculums. Zweitens: Wir knüppeln die kleinen struppigen Pferde, die in der Steppe wohnen, mit Stöcken zu Tode. Damit war der zweite Gegenstand des Altsteinzeit-Curriculums gefunden - die kleinen zottigen Pferde. Drittens: Wir vertreiben den Säbelzahntiger mit Feuer, dritter Gegenstand des Curriculums - Tiger vertreiben. Als er dies erkannt hatte, ging er hin und praktizierte mit seinen eigenen Kindern diese drei Fertigkeiten und bald waren diese Kinder allen voraus. Die anderen sahen dies und machten es ebenso mit ihren Kindern und der Stamm sicherte sich sein Leben und verbesserte seinen Lebensstandard. Seitdem gehören zum Kern der paläolithischen Erziehung: Fische grapschen, Pferde totknüppeln und Tiger vertreiben.

Es blieb aber nicht so, die Gegebenheiten und Lebensbedingungen veränderten sich, ein Gletscher schon in der Nähe des Stammes, brachte Holz und Geröll in die Landschaft, der Fluss wurde trüb und schmutzig, Fische grapschen war unmöglich. Eine zweite Veränderung folgte daraufhin, weil die Pferde in eine andere Gegend zogen, es kamen dafür leichte, schnelle Antilopen, die mit Knüppeln vom Menschen nicht erreichbar waren. Die dritte Veränderung: Die Tiger starben infolge des Klimawechsels aus, stattdessen kamen die Eisbären. Der Stamm war in einer Krise. Die Anpassung an diese Krise wollte nicht gelingen, indem man weiter nach Fischen grapschte, Pferde totknüppeln wollte und versuchte, die Eisbären durch Feuer zu vertreiben, die aber keine Angst vor Feuer hatten.

Es waren Jahrhunderte bis zu diesem Zeitpunkt vergangen. Es waren andere Männer vom Schlage des Neuefaust, die nun auf die Idee kamen, mit anderen Formen Nahrung und Sicherheit zu verschaffen. Die einen bauten Netze aus Zweigen und sie fingen in kürzerer Zeit viel mehr Fische in den trüben Gewässern, als man jemals mit der Hand gegrapscht hatte. Sie erfanden Schlingen, in die die Antilopen in der Nacht hineinliefen, sie hatten am Morgen mehr Fleisch als je zuvor. Sie erfanden Gruben, in die die Bären hineintraten und nicht mehr herauskamen, so dass man sie töten konnte. Diese neuen Erfindungen wurden von vielen Stammesgenossen geübt und sorgten für die Nahrung des Stammes.

Einige Radikale kamen auf die folgende Idee: sie kritisierten die Schule, die inzwischen eingerichtet worden war, dass das Pferde knüppeln, Fische grapschen und Tiger vertreiben gelehrt werde. Sie sagten, wir sollten in der Schule nur dies machen, was unerlässlich ist für unser neues Leben. Aber die Alten antworteten: "Ihr seid hier bei der Arbeit und nicht in der Schule. Was haben diese praktischen Dinge mit der Schule zu tun? Ihr müsst umdenken, wenn ihr in der Praxis seid. Das, was die Schule macht, hat keine Bedeutung." Die Radikalen beharrten darauf und bestanden darauf und forderten eine Begründung für das, was in der Schule eigentlich gelehrt wurde. Die Alten sagten, es wäre einfach keine Erziehung, wenn nicht mehr Pferde knüppeln, Fische grapschen und Tiger vertreiben gelehrt werde. Das seien Standardkulturgüter, Grundkenntnisse, die weitergegeben werden müssen. Ein Radikaler, der besonders aufgefallen war, bat die Ältesten des Stammes, wenigstens einen Versuch zu machen, aber ihm wurde entgegengehalten: "Fische grapschen ist für eine allgemeine Beweglichkeit, eine übergreifende Beweglichkeit, ebenso Pferde knüppeln und ebenso Tiger vertreiben." Die Radikalen verstummten. Und die Alten stellten fest: "Eine wahre Erziehung ist zeitlos, und es gibt nur einige wenige Wahrheiten. Ewige Wahrheit dieses Stammes ist das Säbelzahn-Curriculum." Soviel aus J. Ebner-Farrywell, 1938 in den USA veröffentlicht.

Was hat das mit unserem Thema zu tun? Ich glaube, sehr viel. Ich glaube, es weist sehr deutlich auf die Frage der Tradition.

Einmal - ich versuche zunächst nur, gewisse Anstöße in einigen Stichworten aus diesem Bild zu skizzieren - es wird etwas gesagt über die Entstehung systematischer Erziehung in Schulen, an einem Krisenpunkt, an Bruchstellen der Kulturtraditionen. Es wird deutlich, dass Schule einen bewussten Rückgriff auf kulturelle Traditionen macht oder machen soll. Es wird deutlich, dass Schule als Ersatz fungiert, wenn bestimmte Traditionen nicht mehr sichergestellt sind. Wenn ich an die modernen Forderungen erinnere, sobald es Verkehrstote in großen Zahlen gibt, wird der Schule die Aufgabe des Verkehrsunterrichts zugewiesen, weil man glaubt, dieses Defizit der Gesellschaft über die Schule lösen zu können. Es zeigt, dass die Menschen in ihrer Entwicklung angewiesen sind auf die Tradition ihrer geschichtlichen Errungenschaften. Es zeigt aber auch, dass es einen Kampf gibt um die Erziehung der nächsten Generation zwischen Traditionalisten und Realisten, hier Radikale genannt und - möglicherweise auch denkbar Utopisten. Und ein letztes lässt sich ablesen, ein Unterschied zwischen einer selbstlaufenden und wirkenden Tradition, die der systematischen Erziehung nicht bedarf, weil sie das Leben des Stammes von selber zunächst garantiert; demgegenüber von einem erzieherisch gemeinten Handeln, einem bewusst erzieherischen Handeln, das dann eintritt, wenn die Überlieferung das Leben nicht mehr trägt. Wir, die wir hier die lange Geschichte des Stammes aufgerollt haben, können das Gewordensein des Säbelzahn-Curriculums durchschauen, so dass uns der Satz von der "ewigen Wahrheit" nicht mehr möglich ist. Erzählung der Tradition und Blick auf die Gegenwart haben uns Distanz verschafft.

Ich möchte im folgenden einen grundlegenden Aspekt aufgreifen. Ich will den Versuch machen, die Notwendigkeit von pädagogischer Tradition für menschliches Leben zu begründen. In manchen Diskussionen genügt eine Handbewegung, um die Vokabel Tradition von vornherein vom Tisch zu schieben. Tradition ist etwas Altes, Verstaubtes, selbst der analytische Zugang zum Begriff der Tradition wird versperrt. Hier hat, so meine ich, der Fortschrittsglaube der Aufklärung gründlich und lang anhaltend aufgeräumt. Das neuere bildungspolitische Prinzip der "rollenden Reform" der 70er Jahre denunzierte jede Form von Festlegung, Kontinuität, Beständigkeit, ja selbst entlastende Kalkulierbarkeit. Solcher extremer Emanzipismus setzt einen Menschen voraus, der keines Haltes bedarf, der prometheisch frei schwebt und letztlich mit seiner Zeit keine substantielle, dauerhafte Bindung eingeht, ja nicht einmal eingehen kann, weil er sich gegenüber allen Gegebenheiten, allem Herkömmlichen, schon von vornherein alternativ verhalten müsste. Ich meine, dass diese von mir als extrem gekennzeichnete emanzipistische Lebensform wohl noch rastloser und unverbindlicher ist als der rastlose Zeitgenosse der modernen Industriegesellschaft. Es ist wohl auch kein Zufall, dass in dem kritischen Lexikon der Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik der Zeitschrift "Päd.-extra" aus dem Jahre 1975 Begriffe wie Geschichte, Tradition, Erziehung nicht vorkommen. Nur die freie Selbstermächtigung des gewollten neuen Menschen ist Programm. Möglicherweise verdanken wir dieser extremen Entwicklung und den daraus erwachsenden problematischen Situationen im einzelnen den neuerlichen, möglicherweise auch auf ein Extrem zusteuernden Rückgriff auf Biographie, auf Geschichte, auf persönliche soziale Lage in ihrer Einmaligkeit. Ein Umschlag trat ein.

An einem solchen Punkt hat aus meiner Sicht die pädagogische Reflexion philosophischer, anthropologischer Herkunft angesetzt und der Tradition in der Erziehung eine grundlegende Bestimmung eingeräumt. Theologie und Philosophie haben wichtige Anstöße geliefert, auch die neuere empirische Anthropologie und die Ethnologie haben die Frage des Eingebundenseins des Menschen in seine Zeit, in seinen Raum zu dem Zeitpunkt übernommen, als die Pädagogik diesen kaum mehr wagte oder vermochte, ihre klassische Reflexion über Tradition, Autorität, Geschichtlichkeit des Menschen, Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, als selbstkritischen Prüfstein aller Neuerungen einzusetzen.

Nach diesem Einstieg ist Tradition nicht einfach mehr etwas Altes, Verstaubtes, das man sozusagen in älteren Vereinen vorfindet. Tradition wird vielmehr zur Voraussetzung dafür, dass menschliches Leben überhaupt weitergeht, dass es nicht stehen bleibt oder zurückfällt. Den Begriff der Tradition, so wie ich ihn charakterisiert habe, muss ich erläutern und abgrenzen. Abgrenzen gegen Traditionalismus, dem puren Vertrauen auf das Gewohnte, auf das Herkömmliche, in Abwehr des Neuen, einer Überbewertung der Tradition im menschlichen Leben. Die Einsicht, dass Tradition für menschliches Leben notwendig sei, baut auf der Einschätzung auf, dass der Mensch schon von Natur aus ein Kulturwesen ist, dass er kulturell geborgen werde von Anfang an und der kulturellen Form bedarf, wenn er sich denn entwickeln will. Der Grund liegt darin, dass er im Vergleich zum Tier ein Mängelwesen ist, dass er nicht geschützt und gesteuert ist durch spezialisierte Instinkte wie etwa die Spinne oder der Vogel, die sozusagen auf dem Wege des Mechanismus, der abläuft, ihr Netz baut. Der Mensch ist offen, unspezialisiert, bestimmbar, vervollkommenbar, aber auch bedürftig der anderen, deren Erfahrungen er sozusagen sich ersparen könnte.

Aus dieser Plastizität erfolgt dann jedoch auch eine Festlegung des Menschen, indem er dauerhafte Einrichtungen, Institutionen weiterführt, in denen sich die Regeln des gegenseitigen Verhaltens manifestieren, in denen Stabilisierung erfolgt, Berechenbarkeit, Entlastung. Der Mensch muss so nicht sämtliche Entscheidungen, die vor ihm gefallen sind, nachimprovisieren; er kann die vor ihm liegende Erfahrung abrufen, er muss sich nicht in zusammenhanglosen Selbstbewältigungen erschöpfen. Die Gefahr der Selbstmacht vieler Institutionen will ich nicht verkennen, es genügt aber, in meinen Beitrag daran zu verdeutlichen, wie notwendig der Mensch auf die Tradition angewiesen ist, auch in dem Feld, wo wir glauben, unterscheiden zu können zwischen solchen Verbänden, die Traditionen kennen und solchen, die keine hätten, nämlich im Bereich des Sports.

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E-Mail:   netSCHOOL Redaktion ; 2003