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I N H A L T
  D. L. Schacter, "Wir sind Erinnerung"        H. Ehlers, "Lernen statt Pauken"  
Welt des impliziten Gedächtnisses Was wir Denken nennen, ist neueren Datums ...
zum impliziten Gedächtnis Die Vernetzung macht's also
Sind Computer Erinnerer?  
 

aus: D. L. Schacter, "Wir sind Erinnerung", Gedächtnis und Persönlichkeit, Rowohlt, Hamburg, 1999 (S. 29f)

Wichtige Erkenntnisse haben wir auch an hirngeschädigten Erwachsenen gewonnen, die große Bereiche ihrer Vergangenheit eingebüßt haben - einige, weil sie keine neuen Erinnerungen anlegen können, andere, weil sie keinen Zugang mehr zu den alten haben. In Kapitel fünf werden wir sehen, dass Untersuchungen an diesen amnestischen Patienten (Menschen mit Gedächtnislücken) zu einer Hypothese mit weitreichender Bedeutung geführt haben: Das Gedächtnis ist keine in sich abgeschlossene Struktur, wie viele Forscher früher glaubten, sondern hängt von vielen verschiedenen Systemen des Gehirns ab.

Durch die Untersuchung amnestischer Patienten haben wir auch Zugang zur bislang verschlossenen Welt des impliziten Gedächtnisses gefunden - der nichtbewussten Beeinflussung unserer Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen durch frühere Erlebnisse. Als ich in der Forschung anfing, untersuchte man in der Psychologie das explizite Gedächtnis für kurzfristig zurückliegende Erlebnisse, indem man Versuchspersonen aufforderte, sich an Wörter oder andere Materialien zu erinnern, die man ihnen einige Minuten zuvor gezeigt hatte. Doch Anfang der achtziger Jahre wurde in einer Reihe verblüffender Experimente nachgewiesen, dass Menschen von solchen Erlebnissen auch dann beeinflusst werden können, wenn sie sie nicht explizit erinnern oder wiedererkennen können. In Kapitel sechs wird von hirngeschädigten Patienten die Rede sein, die keine explizite Erinnerung an kurzzeitig zurückliegende Ereignisse haben, sich implizit aber durchaus an sie erinnern. Die meisten Menschen wissen wenig über ihr implizites Gedächtnis, da ihr Bewusstsein keinen Zugriff darauf hat. Aber sein Einfluss durchdringt unser ganzes Leben, und ich werde zeigen, wie es sich in ganz alltäglichen Situationen bemerkbar macht - zum Beispiel in Gerichtsverhandlungen über Fragen des geistigen Eigentums und des Plagiats (geistigen Diebstahls).

Am eindrucksvollsten zeigt sich die Macht des Gedächtnisses in den tiefgreifenden Auswirkungen emotional traumatischer Ereignisse, auf die ich in Kapitel sieben eingehe. Dort berichte ich von Männern und Frauen, die schreckliche, unauslöschliche Traumata (krank machende Erlebnisse) erlebt haben: eine Feuersbrunst, der sie nur knapp entkommen sind, jahrelange Misshandlungen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern oder erschütternde Kriegserlebnisse. Dann gehe ich auf neuere neurowissenschaftliche Entdeckungen ein, die inzwischen erkennen lassen, warum solche Erinnerungen so machtvoll in ihrer Wirkung sind. Doch obwohl man sich an traumatische Ereignisse im allgemeinen besser erinnert als an normale Erlebnisse, sind diese Erinnerungen wie ihre schlichteren Verwandten komplexe Konstruktionen - keine naturgetreuen Aufzeichnungen der Wirklichkeit.

Allerdings führen emotionale Traumata nicht immer zu lebhaften Erinnerungen, manchmal lösen intensive emotionale Erlebnisse auch weitreichende Amnesien aus. In Kapitel acht betrachten wir rätselhafte Fälle von psychogener Amnesie, so den des jungen Mannes, der nach einem psychischen Trauma plötzlich fast seine ganze persönliche Vergangenheit verlor. Ferner untersuche ich, was geschieht, wenn Amnesien durch schwere Schockerlebnisse hervorgerufen werden, etwa bei einem Mörder, der sein brutales Verbrechen vergisst. Auch auf das umstrittene Phänomen der multiplen oder gespaltenen Persönlichkeit gehe ich ein. Liefert diese Störung wichtige Erkenntnisse über Gedächtnis und Identität? Oder werden multiple Persönlichkeiten, wie Skeptiker meinen, heute so häufig beobachtet, dass man die Gültigkeit solcher Berichte in Frage stellen muss? Nachdem ich selbst Patienten mit dissoziierten (gespaltenen) Identitäten untersucht habe, bin ich zwar mit den Kritikern der Meinung, dass zweifelhafte Diagnosen und Behandlungen erhebliche Probleme aufwerfen, doch glaube ich nicht, dass sich alle Fälle derart wegerklären lassen. Einige dieser verblüffenden Fälle werde ich im Lichte neuerer Erkenntnisse über die Auswirkung von Stresshormonen auf das Gehirn erörtern.


aus: D. L. Schacter, "Wir sind Erinnerung", Gedächtnis und Persönlichkeit, Rowohlt, Hamburg, 1999 (S. 308 - 312)

Ein weiterer Auszug zum impliziten Gedächtnis:

Aus diesen Experimenten geht hervor, dass das implizite Gedächtnis seinen Einfluss sowohl im konzeptuellen wie im perzeptiven Bereich entfaltet. So können wir Aufschluss darüber erhalten, wie sich das implizite Gedächtnis in Alltagssituationen auswirkt, wenn es den Zugang zum konzeptuellen Wissen eröffnet. Tatsächlich belegen die Fälle von unbewusstem Plagiat, die ich oben zitiert habe, vermutlich den Einfluss des konzeptuellen Primings. Ohne Erklärung oder Kontext tauchen plötzlich Ideen in unserem Bewusstsein auf, so dass wir der Meinung sind, wir seien selbst auf sie gekommen, obwohl sie sich von bestimmten Erlebnissen herleiten. Und genau diese Art von konzeptuellem Priming hätte im Fall von Peter Bonyhard eine Rolle spielen können.

Das Auftreten von konzeptuellem Priming und anderen semantischen Formen des impliziten Gedächtnisses kann weitreichende Bedeutung für unser Alltagsleben haben. So hat zum Beispiel die neuere sozialpsychologische Forschung das implizite Gedächtnis mit unbewussten sexistischen und rassistischen Vorurteilen in Zusammenhang gebracht. Wir werden von Stereotypen gegenüber bestimmten Gruppen, etwa Frauen oder Minderheiten, bestimmt, wobei diese Stereotype automatisch und unbewusst aktiviert werden können, wenn wir mit Mitgliedern dieser Gruppen interagieren oder zu ihnen befragt werden. Obwohl wir uns ihrer nicht bewusst sind, können diese Stereotype, sobald sie einmal abgerufen sind, unser Urteil über die Mitglieder der betreffenden Gruppen nachhaltig beeinflussen. So hat die Sozialpsychologin Patricia Devine in ihren Studien weißen amerikanischen Studenten eine Liste mit Wörtern dargeboten, die großenteils einen stereotypisierten Schwarzamerikaner suggerierten - Wohlfahrt, Basketball, Getto, Jazz, Sklaverei, Schulbusse (die unterprivilegierte Schüler in Schulen des Mittelstands bringen), Harlem und so fort. Die Wörter wurden so rasch präsentiert, dass die Probanden sie nur schwer wahrnehmen und bewusst erinnern konnten. Doch als diese Studenten später einen Text über das mehrdeutige Verhalten einer imaginären männlichen Person lasen (über deren ethnische Zugehörigkeit keine Aussagen gemacht wurden), hielten sie das Verhalten dieses Mannes für feindseliger als Studenten, denen man überwiegend neutrale Wörter dargeboten hatte. Dieser Vorurteilseffekt war bei Studenten, die sich auf einem Fragebogen als weniger rassistisch erwiesen, ebenso ausgeprägt wie bei Studenten, die erhebliche rassistische Vorurteile zum Ausdruck gebracht hatten. Die Darbietung rassistisch besetzter Wörter hat möglicherweise automatisch Stereotype gegenüber Afroamerikanern aktiviert, deren sich einige Studenten gar nicht bewusst waren.

Implizite Einflüsse auf unser Urteil und Verhalten können besonders schädlich sein, weil sie außerhalb unseres Bewusstseins operieren. Ein schönes Beispiel ist die Werbung. Da Sie die Werbung im Fernsehen oder in der Zeitung kaum beachten, glauben Sie vielleicht, sie hätte keinen Einfluss auf Ihr Urteil über Produkte und Waren. Doch vor kurzem hat ein Experiment gezeigt, dass Käufer in der Regel Produkte bevorzugen, denen sie wenige Minuten zuvor in der Werbung kaum einen Blick geschenkt haben - das gilt sogar für die Fälle, in denen sie keine explizite Erinnerung daran hatten, die betreffende Werbung gesehen zu haben. Solche impliziten Effekte machen uns anfällig für das, was Sozialpsychologen «mentale Kontamination» nennen: den Prozess, in dem unser Denken und Urteil unerwünschten und unbewussten Einflüssen erliegt. Niemandem gefällt der Gedanke, dass seine Kaufentscheidungen von Werbebotschaften diktiert werden, die er kaum zur Kenntnis nimmt, dass sein Urteil dem Einfluss rassistischer Vorurteile unterliegt oder dass seine Einfälle die Ideen anderer Leute plagiieren, ohne dass es ihm bewusst ist. Und doch, gerade weil wir den Ursprung dieser Einflüsse vergessen, sind wir anfällig für mentale Kontamination. Untersuchungen haben gezeigt, dass man einigen Formen mentaler Kontamination entgegenwirken kann, indem man sich den Ursprung der Vorurteilseinflüsse bewusst macht, aber es ist natürlich schwer, sich implizite Erinnerungen ins, Bewusstsein zu rufen, von deren Existenz man keine Ahnung hat. 

Die nichtbewusste Welt des impliziten Gedächtnisses, die uns die kognitive Neurowissenschaft enthüllt, unterscheidet sich erheblich vom Freudschen Unbewussten. Nach Freuds Auffassung sind unbewusste Erinnerungen dynamische Inhalte, die in einen Kampf mit den Kräften der Verdrängung verstrickt sind. Sie leiten sich aus besonderen Erlebnissen her, die mit unseren tiefsten Konflikten und Wünschen in Zusammenhang stehen. Die impliziten Erinnerungen, mit denen ich mich hier beschäftige, sind weit prosaischer. Sie entstehen als natürliche Konsequenz so natürlicher Tätigkeiten wie Wahrnehmen, Verstehen und Handeln. Häufig verändern sich die zuständigen Systeme, während sie diese Funktionen ausüben - wenn vielleicht auch nur geringfügig. Ständig reagiert unser Gehirn auf die Welt und passt sich ihr an, und wenn diese Veränderungen von Dauer sind, können sie unser Denken, Urteilen und Verhalten auf eine überraschende Weise beeinflussen, die die Wissenschaft gerade erst zu verstehen beginnt. Doch da Priming meist kleine Veränderungen im PRS oder im semantischen Gedächtnis widerspiegelt, und der Erwerb von Fertigkeiten und Gewohnheiten auf langsamem, prozeduralem Lernen beruht, das allmählich Gestalt annimmt, brauchen wir zusätzliche Mechanismen, die uns in die Lage versetzen, die Bilder, Laute, Orte und Gedanken so rasch zu assoziieren und abzurufen, dass sie sich zu einzelnen Episoden zusammenschließen. Wie ich ausgeführt habe, scheint ein Netz von Strukturen in den medialen Schläfenlappen genau dies zu leisten.

Die Erkenntnis, wie allgegenwärtig implizite Einflüsse auf unsere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen sind, führt uns nachdrücklich die anfällige Macht des menschlichen Gedächtnisses vor Augen. Wenn wir uns nicht bewusst sind, dass etwas unser Verhalten beeinflusst, können wir nur wenig tun, um es zu verstehen oder uns dagegen zu wehren. Die unmerkliche, kaum nachzuweisende Natur des impliziten Gedächtnisses ist einer der Gründe dafür, dass es sich so nachhaltig auf unser geistiges Leben auswirkt. Doch wir müssen der Versuchung widerstehen, jeden seltsamen Gedanken, jedes ungewöhnliche Gefühl oder unerklärliche Verhalten der impliziten Wirkung eines Erlebnisses zuzuschreiben, das unserem Bewusstsein entfallen ist. Der Versuch, Gefühle und Verhaltensweisen als Anzeichen für die implizite Erinnerung an ein bestimmtes, vergessenes Erlebnis zu werten, birgt durchaus Gefahren, da es viele potentielle Bestimmungsfaktoren für unsere Gedanken und Empfindungen gibt.

Ungeachtet dieser Irrwege ist der unsichtbare Einfluss des impliziten Gedächtnisses ein wichtiger Teil der Geschichte über die anfällige Macht des Gedächtnisses. Doch nicht immer prägt uns die Vergangenheit so verborgen und indirekt. Ich möchte mich jetzt den Fällen zuwenden, in denen sich die Macht des Gedächtnisses mit einer Kraft Bahn bricht, die uns bis in die Fundamente unseres Lebens erschüttern kann.


aus: D. L. Schacter, "Wir sind Erinnerung", Gedächtnis und Persönlichkeit, Rowohlt, Hamburg, 1999 (S. 65 - 69)

Sind Computer Erinnerer?

Wir könnten die Geschichten von Proust, Magnani und GR wohl kaum verstehen, ohne die subjektive Seite des Erinnerns zu berücksichtigen. Die Erfahrung des Erinnerns macht die alltäglichen Manifestationen des episodischen Gedächtnisses, die uns allen vertraut sind - die mentalen Zeitreisen -, zu einer ausgesprochen menschlichen, vielleicht sogar spezifisch menschlichen Tätigkeit. Natürlich ist die Fähigkeit zur Einspeicherung und zum Abruf von Information keine besondere Eigenschaft des menschlichen Geistes, noch nicht einmal die lebender Organismen. jedes Mal, wenn wir uns der Tastatur unseres PCs bedienen, interagieren wir mit einem enorm leistungsfähigen Gedächtnissystem.

Kognitionswissenschaftler bemühen sich um einen Vergleich zwischen menschlichem Gedächtnis und Computerspeicher auf der Softwareebene. Danach führen die Zellen in unserem Gehirn Anweisungen, Programme und routinemäßige Prozeduren genauso aus wie die Chips und Drähte im Computer. Viele Kognitionswissenschaftler halten den menschlichen Verstand für ein Rechensystem besonderer Art und glauben, sie müssten nur die Regeln verstehen, nach denen der Verstand arbeitet, um einen Computer so zu programmieren, dass er ihn exakt kopiert. Ist es denkbar, dass ein Computer auf mentale Zeitreisen geht, die Vergangenheit aufsucht und sie wiedererlebt, wie wir es tun? Wird ein Computer jemals das Empfinden haben können, eine Erinnerung «gehöre » ihm, so wie Will McDonough das Gefühl hat, seine Erinnerungen an den Boston Garden seien ein Besitz, der ihm nicht zu nehmen sei?

Diese Frage steht in enger Beziehung zu einer anderen von allgemeinerer Bedeutung: Sind Computer grundsätzlich zu irgendeiner Form bewusster Erfahrung fähig? In diesem Zusammenhang wird dann meist das Konzept des «Turingtests» beschworen, den der namhafte englische Mathematiker Alan Turing entwickelt hat. Ein Turingtest ist eine hypothetische Situation, in der ein Beobachter zwei Gesprächspartnern - der eine ein Mensch, der andere ein Computer - Fragen stellt, aber nicht weiß, wer wer ist. Wenn der Beobachter trotz unablässigen Fragens nicht herausfinden kann, wer der Computer und wer der Mensch ist, hat der Computer den Turingtest bestanden. Viele Vertreter der Künstliche Intelligenz (KI) sind der Auffassung, dass man einem Computer, der den Turingtest besteht, die menschliche Denkfähigkeit zugestehen müsse. Gehen wir einmal davon aus, diese Behauptung träfe zu, und fragen wir weiter: Ist sich ein Computer, der den Turingtest besteht, auch seiner Gedanken in einer Weise bewusst, die dem menschlichen Bewusstsein gleicht oder auch nur entfernt mit ihm verwandt ist?

Anhänger der «starken KI», die die Ansicht vertreten, dass in nicht allzu ferner Zeit die Computer über alle geistigen Fähigkeiten des Menschen verfügen werden, beantworten die Frage mit einem vollmundigen Ja .Das tun auch einige Philosophen.

Beispielsweise meint Daniel Dennett, das menschliche Bewusstsein werde durch eine Art Computerprogramm erzeugt, eine «Virtuelle Maschine», wie er sagt, die in der parallelen Hardware des menschlichen Gehirns installiert sei: «[Wenn] alle Phänomene des menschlichen Bewusstseins <allein> durch die Aktivität einer virtuellen Maschine erklärt werden können, die sich über die astronomisch hohen regulierbaren Verbindungen innerhalb des menschlichen Gehirns realisiert, dann hätte im Prinzip ein richtig <programmierter> Roboter, ein Computerhirn auf Siliziumbasis, ein Bewusstsein, ein Ich.» Wenn Dennetts Roboter Bewusstsein und Ich zugebilligt wird, dann sollte man ihm auch das uneingeschränkte Recht auf die subjektiven Erfahrungen des Erinnerns und auf die Fähigkeit, mentale Zeitreisen zu unternehmen, zugestehen. Dennetts Entwurf erinnert an die Romanwelten von Autoren wie William Gibson, der in "Neuromancer" und "Johnny Mnemonic" beschreibt, wie sich Menschen und Computer in einen gemeinsamen Cyberspace einklinken - ein mentales Internet, in dem die Information von Bewusstsein zu Bewusstsein wandert und die subjektiven Erfahrungen von Menschen und Computern unmerklich miteinander verschmelzen.
Die Vorstellung, das menschliche Bewusstsein sei ein Softwarepaket, das im Netzwerk der Gehirnzellen installiert sei, klingt verlockend, ist aber von philosophischer und wissenschaftlicher Seite einer scharfen Kritik unterzogen worden, die dieser Art von Analyse Naivität vorwirft. Wenn ein Rechenroboter noch nicht einmal ein rudimentäres Bewusstsein erwerben kann, dann ist schwer einzusehen, wie ihm die subjektiven Erfahrungen des Erinnerns zuteil werden können oder wie er das Gefühl haben sollte, dass diese Erinnerungen ihm «gehören».

Die Debatte über Computerbewusstsein kann uns helfen, klarer zu erkennen, welche Beweise wir brauchen, um zu dem Schluss berechtigt zu sein, dass jeder Gedächtnisakt auf der bewussten Erfahrung des Erinnerns beruht. Wenn beispielsweise ein Proband in einem Experiment erklärt, er « erinnere » sich an etwas oder er «wisse» etwas, ist der Versuchsleiter, wie gesagt, bereit, nach diesen Aussagen die Qualität des Erinnerungserlebnisses einzustufen. Nun wäre es ein leichtes, einen Computer so zu programmieren, dass er in einem simulierten Gedächtnisexperiment diese beiden Antwortarten gäbe, aber niemand käme deshalb ernsthaft auf die Idee, dass der Computer sich an bestimmte Einzelheiten erinnere und von anderen auf die gleiche subjektive Weise wisse wie eine menschliche Versuchsperson. Was könnte uns zu dieser Auffassung bringen? Gibt es einen Turingtest für Erinnerungserfahrung?

In Ridley Scotts Film Blade Runner bringen Computertechnologie und Biotechnologie in gemeinsamer Anstrengung eine neue Spezies hervor, die «Replikanten», die dem Menschen praktisch in jeder Hinsicht gleichen. Rachel ist eine neu entwickelte Versuchsreplikantin, der man ein reichhaltiges Sortiment von Erinnerungen eingepflanzt hat. Die statten sie mit einer so überzeugenden persönlichen Vergangenheit aus, dass Rachel ihr außermenschlicher Status gar nicht bewusst ist. Doch Deckard, der den Auftrag hat, unbotmäßige Replikanten auszuschalten, öffnet ihr die Augen, indem er eine Reihe von Rachels persönlichsten Kindheitserinnerungen herunterleiert und ihr mitteilt: «Das sind nicht deine Erinnerungen, sondern die eines anderen.» Nach Rachels Tränen, Gesichtsausdruck und Tonfall zu urteilen, lösen diese Erinnerungen äußerst heftige emotionale Reaktionen in ihr aus. Daher ist Deckard überzeugt, dass die Erinnerungen in gewisser Hinsicht zu ihr gehören, und gelangt zu dem Schluss, dass man ihr erlauben sollte, als Mensch zu leben. Damit hat Rachel einen Turingtest für Erinnerungserfahrung bestanden: Deckard kann nicht zwischen der subjektiven Reaktion dieser Replikantin auf ihre Erinnerungen und der eines Menschen unterscheiden, da Rachel zeigt, das sie subjektiv die uneingeschränkte Macht des Gedächtnisses erlebt. Die Intensität der subjektiven Erfahrung, die Rachel erkennen lässt, ist das Kennzeichen expliziten Erinnerns beim Menschen. Da diese Erfahrung so untrennbar zur menschlichen Erinnerung gehört, würden sich die meisten Beobachter wohl durch eindeutige Beweise intensiven subjektiven Erlebens davon überzeugen lassen, dass sich ein Computer tatsächlich in der gleichen Weise erinnert wie ein Mensch.

Der Neurobiologe Gerald Edelmann vertritt die Auffassung, dass sich die Vielschichtigkeit menschlichen Erinnerungserlebens «durch die verarmte Sprache der Computerwissenschaften - <Speicher>, <Suchen>, <Input>, <Output> - nicht angemessen wiedergeben lässt». Ich teile seine Meinung. Wie Edelmann deutlich macht und wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden, sind subjektive Erinnerungserlebnisse eng mit bestimmten Systemen und Netzwerken im Gehirn verknüpft. Folglich kann ich mir kaum vorstellen, dass eine Software, die nicht in diesem biologischen Substrat verwurzelt ist, jemals die Erfahrung machen kann, ihre Vergangenheit wiederzuerleben.


 

aus: H. Ehlers, "Lernen statt Pauken", Ein Trainingsprogramm für Erwachsene, Augustus Verlag, Augsburg, 1996 (S. 29ff)

Was wir Denken nennen, ist neueren Datums ...

Aber zurück zu den eingangs gestellten Fragen nach den Denk- und Lernprozessen. Wenn Sie selber Haustiere haben oder welche beobachten können, werden Sie feststellen, dass es kaum gelingen wird, einer Schildkröte etwas beizubringen. Reptilien stehen auf einer ziemlich niedrigen Entwicklungsstufe. Sie verfügen fast ausschließlich über angeborene Verhaltensweisen und können nur äußerst bedingt lernen.

... als das System angeborener Verhaltensweisen

Wenn man das Gehirn einer Schildkröte mit einem Computer vergleicht, so könnte man sagen, dass sie fast nur über einen festprogrammierten Speicher verfügt (vergleichbar mit einem ROM, einem Nur-Lese-Speicher). Diese Art Speicher ist wie der gute alte Acht-Millimeter-Schmalspurfilm: nur zum einmaligen Aufnehmen (Speichern) von Bildern geeignet. Abspielen (lesen) können Sie ihn dann aber, so oft Sie wollen. So läuft das Leben einer Schildkröte hauptsächlich nach vorgezeichneten Rhythmen, Reaktionen und Verhaltensweisen ab.

Höher entwickelte Tiere haben nicht nur einen festprogrammierten Speicher ...

Beim Haushund dagegen ist das schon ganz anders. Er verfügt nicht nur über ein entwickeltes limbisches System, sondern auch bereits über ein Großhirn. Sein Verhalten ist bereits deutlich von eigenen "Lernerfahrungen" gekennzeichnet. Und wenn Sie einmal erlebt haben, wie ähnlich ein Hund seinem Herrchen werden kann, verstehen Sie, was damit gemeint ist. Irgendwo zwischen Hund und Schildkröte wären dann wiederum die Hausgans oder das Meerschweinchen anzusiedeln. Sie repräsentieren unterschiedliche Entwicklungsstufen des Gehirns und damit auch unterschiedliche Lernfähigkeiten.


... sondern schon so etwas wie einen Arbeitsspeicher

Diese Tiere, insbesondere die Säugetiere, verfügen damit bereits über ein Gehirn, das neben einem festprogrammierten Speicher über einen Arbeitsspeicher verfügt (vergleichbar einem RAM, einem Lese- und Arbeits-Speicher). In diesen können Informationen und vor allem bestimmte Verhaltensweisen "hineingeschrieben" werden. Erst diese Verhaltensänderungen zeugen von wirklichem Lernen. Haben wir vorhin den ROM-Speicher mit einem Acht-Millimeter-Schmalspurfilm verglichen, so ist der RAM-Speicher eher eine Videokassette. Hier können immer wieder neue Informationen aufgespielt (gespeichert) und natürlich auch wieder abgerufen werden.

Doch erst der Mensch verfügt mit seinem entwickelten Gehirn nicht nur über den am höchsten entwickelten Arbeits-Speicher, er verfügt auch über sehr leistungsfähige Langzeit-Speicher. Solche Speicherarten sind den Festplatten eines Rechners ähnlich, die noch um weitere Speichermedien ergänzt werden können. Diese Rechnerarchitektur ermöglicht eine - im Vergleich zu den Rechnern der heutigen Generation - unvorstellbar große Speicherkapazität.

Aber nicht die enorme Speicherkapazität oder das Tempo einzelner "Schaltungen" machen das Gehirn des Menschen im Vergleich zum Tiergehirn oder im Vergleich zu leistungsfähigen Computern so einzigartig.

All diese Erscheinungen sind erst möglich, weil der Mensch über eine geradezu ideale Software fügt: Diese ermöglicht es nämlich, einzelne Gehirnabschnitte zeitlich parallel miteinander zu vernetzen.

Die Vernetzung macht's also

Allein daraus ergibt sich eine ungeheure Steigerung der Leistungsfähigkeit unseres Gehirn-Computers. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass die Verknüpfungen zwischen den Netzwerken immer wieder nach neuen Mustern gebildet werden können.

Nicht in irgendeinem "Zentralrechner" ist die Quelle absoluter Wahrheit oder der Koordinator unserer Gedanken und Erinnerungen zu suchen. Es sind die einzelnen Netze, die miteinander kommunizieren, sich gegenseitig beeinflussen und zu komplexen Netzwerken zusammenwachsen. Aus ihnen selbst heraus entsteht je nach Anforderung eine globale Ordnung, die in ihrer Gesamtheit alle Gedächtnisprozesse steuert.

Darüber hinaus ermöglicht unsere Gehirn-Software auch, externe Datenträger z.B. Bücher, Radio, TV oder die Informationen anderer Menschen - in dieses innere Datennetz einzubeziehen. Wir verfügen damit als einziges Lebewesen auf dieser Welt quasi über ein externes Gedächtnis.

 

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