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  Denken, Lernen, Selbstlernen

aus: Frederic Vester, "Denken, Lernen, Vergessen", dtv, München, 18. Aufl., 1991, (S. 108-129) (Fortsetzung)

  erster Teil

 
Welche Möglichkeiten haben wir nun noch, die natürlichen Denkblockaden gegen einen neuen Stoff zu vermeiden? Das geht bestimmt nicht, indem man die neue Information wie in dem gerade gezeigten Beispiel noch mehr verfremdet, sondern indem man sie, wie wir schon sahen, in einer bekannten Verpackung anbietet, damit sie im Gehirn einen Aufhänger findet - ähnlich wie die Vielkanalinformation aus der vertrauten Telefonecke, die den Namen Berthold begleitete. Das Prinzip der begleitenden Vielfachinformation sollte man daher im Unterricht bewusst anwenden. Doch woher die richtige Verpackung nehmen? Nun, wir haben da eine ganz bestimmte bekannte Verpackung zur Verfügung, die ständig vorhanden ist und alle anderen Aufhänger aussticht: unseren eigenen Körper. Fordern wir also, das rein begriffliche Lernen dadurch zu ergänzen, dass man - wie es gute Lehrer längst tun - andere Sinnesorgane mit einbezieht.

Nehmen wir wieder eine der Klassen, die das Thema »Bierbrauen« behandeln. In dieser Stunde wird gerade der Hopfen besprochen. Die Kinder haben erfahren, wo und wie er angebaut wird, wie er aussieht, zu welcher Pflanzenfamilie er gehört, wie er geerntet wird, dass er Bitterstoffe enthält und wozu er verwendet wird. Nun teilt der Lehrer Hopfendolden aus. jeder Schüler bekommt ein, zwei Dolden. Die Kinder nehmen sie auseinander und zerreiben sie intensiv auf der Hand. Das tun sie ganz spontan - vorausgesetzt, man lenkt sie nicht durch Erklärungen ab oder verbietet es ihnen gar. Denn besonders das Anfassen, die körperliche Bewegung, also das haptische Lernen, bietet ja automatisch für jeden neuen Stoff eine solche bekannte Verpackung - wie gesagt, uns selbst. Ganz abgesehen davon, dass der Lerninhalt, weil er nun über mehrere Eingangskanäle verläuft, auch intensiver gespeichert wird. Der Drang bei Kindern, etwas Neues, Unbekanntes anzufassen, ist wahrscheinlich ganz einfach ein Drang, über den eigenen Körper damit vertrauter zu werden. In unserer Hopfenstunde bleibt es aber bei den Kindern natürlich nicht nur beim Zerlegen und Zerreiben der Dolden. Sie stecken ihre Nase hinein, schnuppern, riechen an ihrem Finger, stecken ihn in den Mund. »Na, wie schmeckt das?« »Scheußlich«, »ganz bitter.« »Seht Ihr, das ist jetzt dieses Lupolin, was ihr da schmeckt, dieser Bitterstoff, der gibt dem Bier dann später die Würze.« Es schmeckt wirklich bitter. Die Kinder schneiden Grimassen, strecken die Zunge heraus. Das Ganze macht riesigen Spaß. über das Zerreiben zwischen den Fingern, die Geschmacksempfindung, das Herausstrecken der Zunge, das Grimassenschneiden sind jetzt nicht nur die Bitterstoffe des Hopfens, sondern auch all die anderen neuen Informationen, die damit zusammenhängen, über die zusätzlichen Eingangskanäle und Assoziationsfelder intensiv verankert und auch untereinander mehrfach verknüpft.

Die Möglichkeiten, im Unterricht mehrere Eingangskanäle anzusprechen, sind heute Legion. Neben die klassische Form des Unterrichts durch die Medien Lehrer, Buch und Tafel treten andere Formen mit vielen, praktisch kostenlosen Möglichkeiten - siehe obiges Beispiel -, ganz abgesehen von den bekannten modernen Medien wie dem Over-Head-Projektor, den Dia- und Filmprojektoren, Tonbandgeräten, Plattenspielern und verschiedensten Lehrmitteln, etwa den großartigen »Phaen-Objects« von Hugo Kükelhaus und anderen. Alles zusammen also eine große Fülle von »Hardware«-Angeboten, von denen allerdings gerade die hochtechnisierten mit einer leider allenthalben noch miserablen »Software« verknüpft sind, einem miserablen Inhalt, wie ihn viele Medienverlage und Hardware-Firmen mit den neuen Geräten unbekümmert auf den Markt werfen (und sich dann wundern, dass die dazugehörigen Apparate keinen Absatz finden). Dabei würde die zur Verfügung stehende revolutionäre Technik durchaus auch eine revolutionäre Lernmethodik erlauben. Statt durch die Vielzahl schlechter Lehrer den Schülern und Studenten die Lust am Lernen zu nehmen, könnte man - vielleicht ausgenommen in Sonderschulen und bestimmten Berufsschulklassen - mit einem Zehntel dieser Zahl, jedoch zehnfach bezahlt, eine didaktische Elite entstehen lassen, die qualitätsmäßig ein Vielfaches unseres jetzigen Lehrer- und Hochschullehrerstammes leisten könnte. Eine Aufgliederung in Chefpädagogen mit mehreren Hilfskräften (auch Schülern!), darunter solche, die speziell die Vorbereitung von Lehrmitteln, die Bedienung von Medien und die Durchführung von Übungen vornehmen. Also Multiplikation wo es möglich ist, individuelle Betreuung wo nötig, was dann alles zusammen bei wieder gleicher Personalstärke nicht nur einen effektiveren Unterricht, sondern auch kleinere Klassen und weniger Schulstunden für den Schüler zur Folge hätte. Durch jene Techniken vervielfacht, könnten die Fähigkeiten von wenigen hervorragenden Didaktikern allen zugänglich gemacht werden.

Natürlich verändert ein solcher Einsatz neuer Medien, wenn sie gut sind, auch ganz entscheidend das Lehrer-Schüler-Verhältnis zum Positiven. Sie nehmen dem Lehrer einerseits einen Teil seiner Mittlerfunktion ab, machen ihn aber andererseits - gerade bei den Vervielfältigungsmedien - frei für den so notwendigen persönlichen Kontakt zu den Schülern während des Lernprozesses. Und dies auf einmal weniger vom Podest eines durch seinen Informationsvorsprung überlegenen Gegners, sondern eher als Lernpartner und -helfer gegenüber einer psychisch-neutralen Informationsquelle von dritter Seite. Eine Stunde am Tag im anregenden Kontakt mit einem begabten, glänzend dafür ausgebildeten Lernpartner könnte genügend intellektuelle und menschliche Impulse für den Rest des mit anderen Medien und Mitteln bestrittenen Schultages liefern (statt wie heute noch vielfach von Stunde zu Stunde neue Frustration). Auf diese Weise käme mit weniger Kosten als heute eine Qualität und eine Effizienz des Unterrichts für alle Lernenden zustande, von der man heute kaum zu träumen wagt.

Doch wieder zurück zu unseren biologischen Lernhilfen: Auch die Reihenfolge des angebotenen Lernstoffs spielt eine Rolle. So bleiben Aufmerksamkeit und Einordnung für einen neuen, fremden Stoff aus, wenn man ihn nicht so aufbaut, dass zunächst einmal der größere Zusammenhang, der ihm seinen Sinn gibt, aufgezeigt wird. Wenn man also in den bekannten Fehler verfällt, mit den Details eines neuen Stoffes zu beginnen: mit Vokabeln, Geschichtsdaten, Namen, chemischen Formeln und Fachausdrücken, die man, wenn überhaupt, nur notdürftig irgendwo im Gehirn assoziieren kann, und meist an der falschen Stelle, wird sich in unseren grauen Zellen wenig tun. Da das Erfolgserlebnis des Wiedererkennens und Einordnens ausbleibt, setzen zusätzliche Frustration und Stress ein und damit wiederum Denkblockaden und vermehrte Assoziationsschwierigkeiten. Selbst wenn nun endlich - hinterher - der größere Zusammenhang erklärt wird, wenn das Skelett für all diese Details angeboten wird, ist es dafür nun zu spät. Das Ultrakurzzeit-Gedächtnis ist längst abgeklungen, die Details sind nicht mehr greifbar. Die Zeit, in denen die Schüler mit solchen neuen Einzelinformationen, Vokabeln und Spezialausdrücken berieselt werden, ist also vertane Zeit, wenn nicht vorher die Möglichkeit gegeben wird, diese Informationen sinnvoll zu verankern.

Auch dies führt wieder zu einer Grundforderung: vor neuen Einzelinformationen immer den größeren Zusammenhang, sozusagen das Skelett des Ganzen anzubieten. Die nicht allzu fremde Information eines solchen größeren Zusammenhangs wird sich auf vielen Ebenen im Gehirn verankern und nun ein empfangsbereites Netz für die ankommenden Details bieten. Ja, es wird diese - statt dass sie, wie im anderen Fall, in den Kopf hineingepresst werden müssen - direkt saugend in sich aufnehmen. Ganz gleich, ob über das Auge, über das Ohr oder das Gefühl - so, als wenn man zu einem Spiel interessante Regeln hat und nun auch gern die Steinchen hätte, damit man endlich spielen kann.

Wir haben bereits eine ganze Reihe von Hilfen, eine unbekannte Information im Gehirn besser zu verankern: indem man die Neugier weckt, den unbekannten Stoff in einer bekannten Information verpackt, bestimmte zusätzliche Eingangskanäle einsetzt, die neue Information mit vertrauten Sinneswahrnehmungen verknüpft, was wiederum ein erneutes Wecken von Neugier nach sich zieht. Das alles zusammen sorgt über eine positive Hormonreaktion, über Freude, Spaß und Erfolgserlebnis für ein reibungsloses Funktionieren der Synapsen und des Kontakts zwischen den Gehirnzellen.

Es kann nicht deutlich genug betont werden, dass all diesen Lernhilfen - etwa dass eine Information, wenn sie mit Freude, Erfolgserlebnis, erotischer Anregung, mit Neugier, Spaß oder Spiel verbunden ist, weit besser verankert wird - ganz konkrete biologische Mechanismen zugrunde liegen und dass wir damit ein in unseren Schulen und Universitäten sträflich vernachlässigtes Lerngesetz berühren: die Aktivierung der positiven Hormonreaktion. So wichtig es ist, den Lernprozess von unangenehmen Begleitereignissen zu befreien, so wichtig ist es auch, das Lernen mit schönen und angenehmen Ereignissen zu verknüpfen. Die Ausschüttung von Stresshormonen durch die Nebennieren und im Gehirn wird weiter verringert, und nur so können die vorhandenen Assoziationsmöglichkeiten für das Denken und Lernen voll genutzt werden. Der Effekt ist sogar ein doppelter. Beim späteren Abrufen, beim Erinnern der so gespeicherten Information wird ja auch die Freude wieder erinnert, der Spaß, die Begeisterung, die wir dabei hatten. Alles Empfindungen, die bei der gesamten inneren Verarbeitung des Stoffes positiv abfärben und somit auch beim Abfragen, bei Examen und Schularbeiten den Organismus wieder in den gleichen hormonellen Zustand bringen, ihn sozusagen »entstressen«. Ein Zustand, in dem die Schalterverbindungen des Gehirns besonders gut funktionieren.

Hier finden wir auf einmal auch die Erklärung dafür, dass diejenigen Ereignisse viel besser im Langzeit-Gedächtnis behalten werden, die mit positiven Erlebnissen verbunden sind. Allenthalben hören wir ältere Leute zum Beispiel ihre Erlebnisse aus der Kriegs- und Nachkriegszeit erzählen. Ist es nicht eigentümlich, dass vorzugsweise immer wieder von lustigen oder schönen Augenblicken innerhalb des grausamen Gesamtgeschehens berichtet wird? Das Schöne, das Angenehme ist nicht nur erinnerungs- und erzählenswerter, sondern von ihm weiß man auch viel eher ausführliche Details zu erzählen, wogegen von Strapazen und Ängsten weit weniger gut berichtet werden kann. Das soll nicht etwa heißen, dass wir über ausgestandene Ängste, vor allem über Situationen, in denen unser Leben unmittelbar bedroht war, nichts mehr wissen; nur, angenehme Dinge können einfach wegen der mit ihnen verbundenen positiven Hormonlage weit vielfältiger assoziiert werden als unangenehme Ereignisse. Damit können sie im Allgemeinen auch geistig besser verarbeitet und ausführlicher zurück gerufen werden als solche, die mit Frustrationen und Spannungen verbunden sind. Diese sind zwar auch verankert, aber weniger über unseren Intellekt und seine vielfältigen Assoziationen als vielmehr über entsprechende Warnreflexe und oft nur schwer kontrollierbare unterbewusste Reaktionen.

So erkennen wir schließlich, dass es sich bei unangenehmen Sekundärassoziationen, bei Spannungen mit dem Lehrer, bei Hungergefühl, bei Kälte oder wenn man mit jemandem zerstritten ist, schon rein biologisch nicht nur schlechter lernt als bei angenehmer Atmosphäre, sondern dass auch das spätere Abfragen aus dem Langzeitgedächtnis, auch wenn dann selbst kein Stress erzeugt wird, vereitelt werden kann, und zwar durch die ursprünglich mit dem Stoff gespeicherten Stresssignale, die nun ebenfalls wieder mit abgerufen werden.

Leider sind nun in der Praxis auch diese Beziehungen kaum bekannt. Und so mancher Lehrer und manche Eltern glauben im Gegenteil, ausgerechnet durch Stressfaktoren Erfolge erzielen zu können. Zum Beispiel Lehrer Sauer. Er brüllt durch die Klasse, schlägt knallend mit der Hand auf den Tisch: »Jetzt aber Ruhe, los, Hermann, komm mal an die Tafel. jetzt schreibst du mir fein säuberlich hier rechts neben die Jahreszahlen die Ereignisse aus der Reformationszeit hin. Aber ein bisschen dalli, jetzt geht's nämlich um die Zeugnisnote!« Lehrer Sauer lässt den Schüler an sich vorbeigehen, folgt ihm dann zur Tafel. Plötzlich dreht er sich zur Klasse um und brüllt: »Wer blättert denn da? - Ach, der Theo! Sieh mal einer an. Was hast du denn da? « Theo legt etwas betreten sein Französischbuch zur Seite - sieht scheu zum Lehrer, weiß nicht so recht, woran er ist. Da dröhnt es auf ihn ein: »Steh auf, wenn ich mir dir rede, du Idiot. Was ist denn das?« Er nimmt das Buch hoch. »Wir haben doch Geschichte und kein Französisch!« Sauer knallt das Buch wieder auf den Tisch, es fällt herunter, verlegen lächelt Theo. »Grins nicht so blöd!« Sauer wendet sich von Theo ab, geht wieder zur Tafel - und schon wieder fährt er herum: »Wer kichert denn da, sieh an, unsere liebe Gaby. Los, Klassensprecher, aufschreiben: Gaby stört den Unterricht.« Er schaut sie wütend an: »Dein Verweis ist auch bald fällig, meine Dame!« Die Klasse wird unruhig. Sauer scheint die Fassung zu verlieren. Er beginnt zu schreien: »Ihr denkt wohl, ich lass den Affen aus mir machen? Was glaubt ihr denn, wofür ich da bin?« Er deutet auf die Tafel. »Hier, das muss in eure Köpfe rein, nicht in meinen.« Hermann druckst noch immer an der Tafel herum. »Aha, du bist wohl am Ende, wollen mal sehen, was der Hermann fertiggebracht hat. Sieh da, 1525 - Luther, ausgerechnet! ist wohl alles, was du weißt, was? Nie was von der Schlacht von Pavia gehört? Karl V.? Und hier? - Fehlanzeige!« Sauer hakt die Jahreszahlen ab, zu denen Hermann nichts hingeschrieben hat. »Fehlanzeige! Fehlanzeige! Fehlanzeige!« Er kommt zur letzten Zahl: 1546. »Schmalkaldischer Krieg - wohl das einzige, was du weißt? Das kennt doch jeder. Setzen! Sechs! - Also ihr Kanacken, wenn ihr nicht mehr fertig bringt ...« Da klingelt es zum Ende der Stunde. Unruhe entsteht, die Schüler stehen auf. Sauer brüllt noch einmal in die Klasse: »Also, für die nächste Stunde Kapitel sieben!« Er packt seine Mappe und verschwindet. Die Schüler strömen ihm nach aus der Klasse. (Nach einem typischen Unterrichtsablauf 1973 in einem Münchner Gymnasium.)

Nun, vielleicht fragen wir jetzt einmal, wo unser guter Lehrer Sauer überall versagt hat. Seine Methode bestand darin, einzuschüchtern, herumzubrüllen, Angst einzuflößen, unverständlich zu reden und an der Tafel die Fehler des Schülers anzuhaken (und somit das hervorzuheben, was dieser nicht wußte). Seine »Fehlanzeigen« waren anderer Art und wohl weit schwerwiegender: Hat Sauer Motivation geliefert? Nein. Neugierde geweckt? Nein. Erfolgserlebnis vermittelt? Bestimmt nicht. Angenehme Gefühlsassoziationen zur besseren Verankerung mitgeliefert? Nein. Größere Zusammenhänge angeboten? Nein. Mehrere Eingangskanäle angesprochen? Auch nicht. Wenn jemand eine dicke Sechs verdient hat, dann auf jeden Fall Lehrer Sauer.

Indem er ganz im Gegensatz zu seinen Aufgaben Frustration vermittelt hat, Angst erzeugt hat und Unverständnis, die Aufmerksamkeit vom Stoff abgelenkt hat, tat er Dinge, die vielleicht für die Stressforschung interessant wären, die jedoch für die Vermittlung und Überprüfung des Geschichtsverständnisses völlig belanglos sind. Doch auch wenn er in netter Weise Geschichtszahlen abfragte und Namen aneinander reihen ließe, so wäre auch dies wiederum nur interessant, wenn er die Fähigkeit der Kinder prüfen wollte, Begriffe auswendig zu lernen. über die eigentliche, mit dem Thema verbundene Fähigkeit, nämlich das Geschichtsverständnis, gibt auch dies immer noch keine Auskunft.

Mit diesen heute weniger denn je überwundenen Methoden wird aber noch etwas weit Schlimmeres angestellt als solche vorübergehenden Denkblockaden. Auf die gleiche Weise werden darüber hinaus ganz spezifische Dauerblockaden erzeugt, die entweder mit bestimmten Themen verknüpft oder gar auf das Lernen als solches gerichtet sind - das Denken setzt aus, sobald irgend etwas als Lernen empfunden wird. Eine Blockade, die meist mit dem unter Stress und Frustration unterrichteten Fach zusammenhängt oder auch mit der gesamten Schulatmosphäre. Auf die gleiche Weise lassen sich übrigens die Mechanismen erklären, mit denen Tabus aufrechterhalten werden: Dinge, die im wahrsten Sinne des Wortes »undenkbar« sind.

Wir verstehen nun, warum jemandem durch die Schule im späteren Leben die Mathematik, die Chemie, die Geschichte, das Schreiben oder Lesen - ja das Lernen überhaupt - für immer verleidet werden kann. Einfach deshalb, weil mit der Speicherung des Stoffes, mit dem Lernvorgang selbst, auch die negativen Sekundärinformationen mitgespeichert werden und unter Umständen das ganze Leben damit assoziiert bleiben.

Schulbücher, die das Lernen verhindern

Nun sind es aber nicht nur schlechte Lehrer, die in diesem Sinne einen Unterricht ins Gegenteil verkehren. Es ist ebenso grauenvoll, was manche Schulbücher leisten. Denn was nutzen die gewaltigen, in einen Schulbuchtext eingepackten Stoffmengen, wenn sie die Lernfähigkeit töten. Was nutzt die exakteste akademische Formulierung, wenn sie sämtliche biologischen Lerngesetze verletzt? Denken wir nur an eine so verklausulierte Regel wie die oben zitierte von der Nullfolge. Viele solcher Formulierungen werden, gerade weil sie im akademischen Sinne exakt und vollständig sind, äußerst inexakt assoziiert. Sie verwirren den Schüler, nehmen die Lust am Lernen, blockieren die Aufnahme und das Verständnis, da nur sehr wenige Schüler aufgrund ihres Lerntyps darauf ansprechen können.

Bei manchen Schulbüchern ist es gar zweifelhaft, ob sie überhaupt mit irgendeinem Grundmuster auf der gleichen Wellenlänge liegen. Immer. wieder springt einem dort ein unsinnig abstrakter Stil ins Auge, der wissenschaftlich zu sein glaubt, weil er möglichst alles mit Fachwörtern spickt, in geschraubter Weise alles in lauter Hauptwörtern ausdrückt und möglichst unanschaulich bleibt. Wir müssen uns fragen, was das eigentlich für Fachleute sind, die unsere Schulbücher mit solch einem verbalen Ballast voll stopfen und damit jede wirkliche Orientierung verhindern. Da werden in einer Fremdsprachengrammatik schon die Anfänger mit Ausnahmeregeln überschüttet, wie sie allenfalls fürs philologische Staatsexamen nötig sind. Da wimmelt es in Algebrabüchern von sinnlosen und daher verwirrenden Anmerkungen wie: »Die Bezeichnung Grundgesetz für die Sonderfälle der Umstellungs- und der Verbindungsregeln rührt daher, dass man mit Hilfe der Grundformeln alle komplizierteren Umstellungs- und Verbindungsformeln beweisen, dass heißt ohne Berufung auf Zahlenbeispiele oder geometrische Veranschaulichungen ableiten kann. « Da wird nicht einfach gesagt, dass man beim Rechnen mit einer Klammer jedes Glied in der Klammer extra multiplizieren oder dividieren muss, sondern es wird eine »Verteilungsregel« hingeschrieben, die so heißt: »Verteilungsregel: Ein Rechenausdruck erster Stufe wird mit einer Zahl multipliziert beziehungsweise durch eine Zahl dividiert, indem man die Zahl jedem Glied des Ausdrucks als Faktor beziehungsweise als Divisor zuteilt.«

Was sind das für Pädagogen, die so auf jede Seite gewaltige, überflüssige Stoffmengen packen und damit die Lernfähigkeit töten, die sich beim Ringen um die exakteste akademische Formulierung verkrampfen und sich keinen Deut darum kümmern, was beim Lesen im Schüler vorgehen wird? Was sind das für Schulbuchredaktionen und Kultusminister, die solchen Büchern ihren Lauf lassen, ja sie sogar empfehlen?

 

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