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  Denken, Lernen, Selbstlernen

aus: Frederic Vester, "Denken, Lernen, Vergessen", dtv, München, 18. Aufl., 1991, (S. 108-129)

Der folgende Text erläutert, wie Lernen und Lehren sinnvoll möglich oder gar unmöglich sind

So hängt zum Beispiel die bewusste Aufnahme einer Information ins Ultrakurzzeit-Gedächtnis von der Aufmerksamkeit ab. Ob man aber für eine bestimmte Information Aufmerksamkeit empfindet, ist wiederum von den bereits vorhandenen Assoziationen abhängig, das heißt von den mit dieser Information bereits möglichen Gedankenverbindungen. Je mehr bekannte Assoziationen also durch eine neue Information angerührt werden, desto größer ist die Chance, dass die Aufmerksamkeit geweckt wird. Wenn aber nichts da ist, woran wir die neue Information anknüpfen können, wenn sie kein Erkennungssignal für das Gehirn hat, wird eine solche Information sozusagen schon beim Pförtner abgewimmelt, und dieser Pförtner ist, wie wir wissen, das Ultrakurzzeit-Gedächtnis. In diesem halten sich die eingehenden Informationen einige Sekunden lang in Form von messbaren elektrischen Strömen auf und klingen dann, wenn sie nichts gefunden haben, woran sie sich festhalten können, unweigerlich wieder ab. Solche Informationen gehen, wie gesagt, an uns vorbei wie Straßenlärm oder die Laute einer fremden Sprache. Die Aufmerksamkeit wird nicht geweckt. Assoziationen sind nicht vorhanden. Nichts wird gespeichert.

Hat jedoch die Information den Pförtner passiert, werden bestimmte Assoziationen angesprochen, so ist der nächste Schritt des Lernens die Aufnahme im Vorzimmer, im Kurzzelt-Gedächtnis, um dann endlich in die Zentrale, ins Langzeit-Gedächtnis, vorzudringen. Diese beiden Schritte sind bereits stoffliche Verankerungen, keine reinen Ionenströme, elektrischen Signale oder Schwingungskreise mehr.

Was können wir nun tun, damit wir etwas aus dem vorbeihuschenden Ultrakurzzeit-Gedächtnis fester verankern? Wie können wir einer Information den »nötigen Ausweis« verschaffen. Nun, um ins Vorzimmer zu gelangen, muss die Information in wenigen Sekunden aus dem Ultrakurzzeit-Gedächtnis abgerufen werden, das heißt sich an weiteren, bereits fest gespeicherten Informationen (Assoziationen) verankern können. Über je mehr Kanäle also eine Information eintrifft, um so eher wird sie solche Assoziationsmöglichkeiten vorfinden. je mehr Assoziationen aber, desto größer auch die sogenannte Motivation, der Beweggrund, der Antrieb und damit auch die Aufmerksamkeit zum Lernen.

Gerade dabei hilft uns nun auch die ganze Verpackung, die »bekannte Begleitinformation«, in der eine neue Information ankommt. Es ist leider allgemein viel zu wenig bewusst - und wird daher auch im Unterricht nicht beachtet -, dass die beim Lernen gespeicherte Information eben nicht nur aus dem Stoff besteht, der gelernt wird, sondern auch aus allen dabei mitgespeicherten, mitschwingenden übrigen Wahrnehmungen.

Ein Lerninhalt ist also immer begleitet von einer Menge anderer Informationen. Die Gesamtinformation besteht somit auch aus den Geräuschen, die wir dabei hören, dem Bohnerwachsgeruch des Raumes, den positiven und negativen Gefühlen, die wir dabei haben, der Sonne, die gerade ins Zimmer scheint, kurz, aus dem ganzen Milieu.

Auch hierzu ein typisches Beispiel, das uns in ähnlicher Form sicher schon allen einmal passiert ist: Wir sitzen gerade an einer Beschäftigung, die uns ganz gefangen nimmt. Plötzlich schrillt das Telefon. Widerstrebend stehen wir auf, gehen hin, heben ab. Wir sind von unserer Arbeit noch zu sehr gefangen, als dass wir voll bei dem sein können, was uns durch die Ohrmuschel an Informationen zukommt. Unter anderem wird ein Name genannt. Wir sollen dringend Herrn Berthold schreiben. Wir glauben, uns alles merken zu können. Wir legen auf, gehen zu unserem Schreibtisch zurück. Wir wissen noch, irgend etwas sollen wir erledigen, wollen uns eine Notiz machen - und haben es vergessen. Es ist wie weggeblasen. Wir wissen nur noch, dass es dringend war. Also bleibt nicht anderes übrig, als unseren Bekannten nochmal anzurufen. Wir gehen zurück in die Telefonecke. Heben den Hörer ab - und plötzlich fällt es uns wieder ein: Richtig. Herrn Berthold sollten wir schreiben.

Was war da vor sich gegangen? Offenbar war die Erinnerung also nicht nur mit dem Namen Berthold verknüpft, sondern auch mit dem ganzen Drumherum, dem Ticken der Uhr, der blauen Vase mit der Rose und deren Duft, mit dem warmen Holz, auf das wir unsere Hand gelegt hatten, dem weichen Sessel, dem Bücherregal, auf dem unser Blick ruhte, also offenbar doch mit allen gleichzeitig aufgenommenen Empfindungen. Im Grunde ist das eine ganz natürliche Hilfe beim Verankern und Abrufen eines Lernstoffs. Während der vergessene Name ja nur über einen Eingangskanal gespeichert wurde - über das Ohr -, war die Gesamtinformation über mehrere Eingangskanäle in unser Gehirn gelangt: über das Auge, das Fühlen der Hand, über die Nase und vielleicht die schöne Erinnerung, die mit der Rose verknüpft ist - und von dort jeweils zu entsprechend vernetzten Assoziationen. Erst als wir wieder zurückgingen, das Milieu-Erlebnis wiederholten, aktivierten wir auch alle diese Assoziationen von neuem, die gleichen Gefühle tauchten auf, und mit ihnen steht auch nun plötzlich der Name Berthold wieder vor uns. Wir konnten ihn vorher nicht erinnern, obwohl die Motivation da war (denn wir wollten ihm ja schreiben), obwohl die Aufmerksamkeit auf die gesuchte Information gerichtet war (denn wir dachten ja angestrengt nach) und obwohl die Information selbstverständlich schon leicht im Kurzzeit-Gedächtnis verankert war (sonst hätten wir uns ja später nicht daran erinnert). Doch alles das reichte nicht aus. Der Name Berthold war verdeckt, in unterschwellige Assoziationen verpackt. Und erst durch deren Aktivierung kam er wieder ans Tageslicht.

Ebenso wie die Assoziationswelt eines ganzen Milieus, hier der Telefonecke, eine bestimmte Information, den Namen Berthold, abruft, läuft die Sache natürlich auch umgekehrt. So kann eine einzelne Information durchaus auch eine ganze Gefühlswelt wieder entstehen lassen, etwa alle Erinnerungen, Gedanken und Gefühle, die an eine bestimmte Melodie geknüpft sind. Erste Liebeserlebnisse, Enttäuschungen, Partys, Wanderungen, Meer, Gebirge und so weiter. Neben Melodien sind es vor allem auch oft Gerüche, die ganze Szenen aus der Vergangenheit wieder hervorrufen können. Man riecht zum Beispiel ein bestimmtes Sonnenschutzöl, und sofort tauchen wieder die Bilder einer Ferienreise auf, Strand, Bootfahren, Pinienhaine werden gegenwärtig. Ein bestimmtes Bohnerwachs lässt einen ganzen Lebensabschnitt wieder erstehen. Es war der Geruch, der dem Raum des Kindergartens anhaftete, in dem man vor vielen Jahren spielte. Und so wie Gerüche und Melodien gibt es unzählige angenehme und unangenehme Wahrnehmungen und Gefühle, die sofort die damit verbundenen Assoziationen wecken und umgekehrt.

Was haben diese Sekundärassoziationen nun für Konsequenzen für das Lernen? Sie sind gewaltig. Denn sie können sowohl das Lernen ungemein fördern, wenn man sie richtig einsetzt, als auch ein Lernen völlig unmöglich machen. Wie gesagt, hier wird keineswegs nur der Lernstoff als Information aufgenommen, sondern ebenso eine große Menge von Wahrnehmungen aus dem Milieu. Wenn wir zum Beispiel Englischwörter pauken, dann gehört zu der Gesamtinformation eben auch die Musik, die wir gerade dabei hören, der Kaffeeduft aus der Küche, die quietschenden Räder der Autos auf der Straße und vielleicht, dass wir Kaugummi dabei kauen. Unser Gehirn ist kein Lagerraum, in dem alles streng getrennt voneinander aufgehoben wird: hier das englische Wort awareness, dort der Kaffeeduft und wieder woanders der Rhythmus der Bluesmelodie. Wie wir schon bei unserem Vergleich mit dem Hologramm gesehen haben, sind alle Erinnerungen »überall und nirgends«, das heißt über die ganze Großhirnrinde verteilt; dazwischen Kreuz- und Querverbindungen (Assoziationen, die sich, wie hier, oft schon bei der Aufnahme ausbilden, oft aber auch erst später beim Erinnern, beim nachträglichen Einprägen und Verarbeiten).

Weil nun Primär- und Sekundärinformationen nicht einfach voneinander zu trennen sind, verknüpft sich der eigentliche Lerninhalt durch die während des Lernens vorhandenen Wahrnehmungen und Gefühle mit einer Vielzahl weiterer Gehirnzellen und Erinnerungsfelder. Diese Verknüpfung ist dann für das Lernen vorteilhaft, wenn der neue Lerninhalt mit vertrauten, angenehmen Begleitinformationen verbunden ist. Er lässt sich dann weitaus besser im Gehirn verankern und später wiederfinden, als wenn etwa zum fremden Stoff auch noch eine fremde Verpackung käme. Wir empfangen ja auch einen uns bisher unbekannten Menschen ohne Angst und feindliche Gefühle, wenn er uns von einem guten Freund vorgestellt wird. Ebenso lassen die vertrauten Begleitumstände beim Lernen weit weniger eine Abwehr, eine Abneigung gegen den unbekannten neuen Stoff aufkommen. Ja, die vertraute Verpackung vermittelt sogar ein kleines Erfolgserlebnis: das Gefühl des Wiedererkennens. All dies bedeutet einen deutlichen Trend in Richtung der »positiven« Hormonlage, weit weg vom Stressmechanismus. Durch die Vielfach-Verankerung schwingen außerdem auch andere Eingangskanäle mit. Wahrnehmungsfelder im Gehirn, die von der - vielleicht nur verbal-abstrakten - Information selbst gar nicht genutzt wurden, aber nun indirekt doch beteiligt sind.

Die Schule aber ist arm an solchen Assoziationshilfen, ja diese sind geradezu verpönt, weil sie nach der herkömmlichen Meinung der meisten Pädagogen und Eltern nur ablenken vom »Eigentlichen«. Und so kommt es, dass die besprochene Verknüpfung der Lerninformation mit den Begleitinformationen des Unterrichts nicht nur keinen Vorteil bringt, sondern sogar das Lernen verhindern kann. Die Schulatmosphäre und die Art, den Lernstoff »unverpackt« oder sogar durch Abstraktion zusätzlich verfremdet anzubieten, erzeugen vielfach Angst, Abwehr, feindliche Haltung und damit eine »negative« Hormonlage. 

In vielen Fällen - je nach der persönlichen Struktur und dem Grundmuster - setzt dann wieder der in vielen hunderttausend Jahren genetisch in uns verankerte Stressmechanismus ein, der zwar schlagartig die Energiereserven des Körpers mobilisiert, jedoch zu ganz anderem Zweck als zum Lernen. Im Gegenteil. Die Stressreaktion erfolgt in jedem Fall auf Kosten des Lernens und Denkens. Und zwar, wie wir schon sahen, ganz im Sinne der Natur. Denn in solchen Fällen sollen andere, weit schnellere Reaktionen als das Denken stattfinden, damit wir im Kampf ums Dasein überleben können. Also: Denkblockade zugunsten rascher, reflexartiger Körperreaktionen, die natürlich heutzutage - weder bei Stresssituationen in der Schule noch sonst im Leben - wirklich stattfinden können.

Stellen wir uns auch diesen Mechanismus an einem Beispiel vor. Eine Frau kommt nach Hause. Es ist schon dunkel. Sie steckt den Schlüssel ins Türschloss, schließt auf, öffnet die Tür, geht in den dunklen Korridor, sieht etwas Furchtbares, erschrickt, schreit auf. Wie zur Abwehr reißt sie die Hände hoch und ist wie der Blitz wieder draußen. Die Tür schlägt zu. Sie flieht bis zum Gartentor, wo sie erschöpft stehen bleibt.

Als sie die Tür geöffnet hatte, sah sie ein großes, unbekanntes Etwas in der dunklen Flurecke stehen. Da sie es nicht einzuordnen wusste, wirkte es wie alles völlig Unbekannte zunächst feindlich. Die Wahrnehmung signalisierte über den Hypothalamus und den Sympathikusnerv ( Achtung: Mandelkern!) prompt heftigen Schrecken und automatische Fluchtbewegung. Warum? Beim Anblick eines unbekannten Etwas ist es für den Organismus zunächst lebenswichtig, dass er über den Stressmechanismus sofort auf die höchste Muskelleistung präpariert wird, in diesem Fall auf Flucht, denn das Unbekannte, Fremde könnte gefährlich sein. Am Gartentor, außerhalb des Hauses - die unmittelbare Stresssituation ist abgeklungen -, bleibt die Frau schließlich stehen. Sie verschnauft und beginnt nachzudenken. Allmählich lichtet sich das Dunkel. Eine Erklärung beginnt sich abzuzeichnen. Sie geht den Weg zurück, schließt die Türe auf, öffnet sie vorsichtig, knipst das Licht an - ja, natürlich, jetzt erkennt sie, wovor sie Angst gehabt hatte. Es war der von der Reinigung zurückgekommene Teppich. Sie hatte vergessen, dass sie die Nachbarin gebeten hatte, ihn in ihrer Abwesenheit in den Flur zu stellen.

Wie in vielen ähnlichen Fällen - ob beim Aufrufen in einer Prüfung, bei der ersten Panik, wenn ein Feuer ausbricht, oder bei einem unerwarteten Geräusch in der Einsamkeit - war auch hier das Denken zunächst blockiert. Erst später, beim Nachlassen des ersten Schrecks und Absinken des Adrenalinspiegels, konnte es wieder einsetzen. So kann in der Tat auch beim Unterricht lediglich die Sekundärinformation »fremd«, »unbekannt« und somit »feindlich« das Lernen und Erinnern verhindern, und zwar genauso, wie wenn jemand von einem Lehrer direkt angebrüllt wird.

In einem Test mit mehreren Schülergruppen verschiedener Klassen wurde ein gut durchgearbeiteter Stoff - es waren, für Münchner Schulen nur allzu naheliegend, der Hopfenanbau und das Bierbrauen - einige Wochen später wieder abgefragt. Und zwar auf vier verschiedene Arten, nach einem ausgeklügelten Verteilungsschlüssel, der eine gesicherte Aussage erlaubte. Einmal sehr freundlich, ermutigend, in plaudernder, anschaulicher Fragestellung. Zum anderen unter Einschüchterung, Anschnauzen des Schülers (er merkte gleich, dass der Lehrer nicht viel von seinem Wissen hielt), jedoch in anschaulicher Weise und mit den gewohnten Ausdrücken. Drittens wieder freundlich wie beim ersten Mal, jedoch in ungewohnter Ausdrucksweise unter fremdartigem Verhalten des Lehrers, obgleich in den Fragen selbst durchaus anschaulich und klar. Viertens zwar wieder freundlich und auch in der vertrauten Weise, jedoch nunmehr völlig abstrakt, das heißt nur in Begriffen ohne anschauliche Beziehung - und damit, ohne andere Eingangskanäle anzuregen.

Das Ergebnis war verblüffend. Im ersten Fall wurden zu 91 Prozent richtige Antworten gegeben. Durch Angstmachen - zweiter Fall - fielen die richtigen Antworten von 90 auf 50 Prozent ab. Wurde dann in der dritten Version die vertraute Art zu fragen - wie gesagt, auch hier freundlich, ohne zusätzliches »Angstmachen« - durch eine unbekannte, fremdartige Ausdrucks- und Verhaltensweise des Lehrers ersetzt, so war das Ergebnis mit 41 Prozent noch schlechter, und wurden schließlich - vierter Fall - anschauliche Fragen durch assoziationsarme abstrakte Formulierungen ersetzt, obgleich in sonst vertrauter Weise, so führte die erzeugte Frustration zu einer noch stärkeren Denkblockade: Nur 33 Prozent wussten die Antwort. Gegenüber dem ersten Fall war in allen übrigen Fällen die Denkblockade durch den erzeugten Stress offensichtlich. Das Ganze also ein natürlicher Abwehrmechanismus gegenüber allem Fremden - auch wenn keine feindliche Haltung zu erkennen ist -, den wir praktisch bei allen höheren Tieren finden.

Gehen wir zum Beispiel in einen Park, in dem sich einige Tauben tummeln. Wir können Brot ausstreuen, hin- und hergehen, laut sprechen - die Tauben lassen sich nicht stören. Für sie sind es vertraute Wahrnehmungen. Doch klatschen wir plötzlich in die Hände, so flattern die Tauben augenblicklich auf und schwirren davon. Das ungewohnte Geräusch wird sofort in körperliche Bewegung umgesetzt - in einen Fluchtreflex. Und doch ist diese Stressreaktion nur der erste Teil eines größeren Programms. Denn die Welt wäre arm dran, würden alle Lebewesen vor allem zunächst Unbekannten immer nur fliehen. Damit das Gehirn gegenüber etwas Neuem nicht nur blockiert ist, sondern es gegebenenfalls auch aufnehmen und verarbeiten, also lernen kann, wird dieser Fluchtmechanismus bald durch eine ganz andere Reaktion abgelöst.

Im Tierpark Hellabrunn legte unser Kamerateam einen buntgestreiften Ball in ein Antilopengehege. Sobald die Tiere den ungewohnten Gegenstand erblickten, stoben sie auseinander. Das gleiche geschah bei den Gazellen, beim Zebra, ja sogar beim Nashorn. Nachdem dann der Ball einige Minuten dort lag, näherten sich die Tiere zögernd, sprangen gelegentlich zurück, näherten sich wieder und beschnupperten ihn schließlich. Wir sehen also, dass die Natur jene grundlegende Abneigung gegen alles Fremde zu überwinden weiß - durch Neugierde. Sie ist der Grundtrieb des Lernens überhaupt. Ein Trieb, der bei allen höheren Tieren vorhanden ist und die Abwehr gegen alles Fremde überwiegen kann.

Und genau hier müssen wir auch in der Schule die Neugierde einsetzen. Sie bildet den Antrieb, die Motivation, auch einen fremden, unbekannten Stoff aufzunehmen, ihm Aufmerksamkeit zu widmen und geeignete Assoziationen für ihn zu suchen. So bildet die Neugier auf unserem Netzplan eine wichtige Brücke von »fremd-unbekannt« zur »Motivation«, ohne dass der hemmende Weg über Stress, Flucht oder Frustration eingeschlagen werden muss.

Wem kommt hierbei nicht die Erinnerung an die gähnende Langeweile so mancher Unterrichtsstunde! Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass wir sämtliche schon von Natur aus vorhandenen, tief in uns eingewurzelten Hilfen des Lernens für den Unterricht nutzen und nicht in so eigenartiger Weise gegen sie arbeiten, wie es leider mit dem typischen Lernstoff heute immer noch geschieht. Veranschaulichen wir uns, was in solchen Fällen in unserem Organismus vor sich geht. In der Bilderfolge auf S. 118/ 119 versucht ein Lehrer einem Schüler »klar« zu machen, was eine Nullfolge ist, indem er den Begriff definiert: »Eine Zahlenfolge ist eine Nullfolge, wenn sich zu jeder noch so kleinen positiven Zahl eine natürliche Zahl n so bestimmen lässt, dass alle Glieder der Folge mit einer Platzziffer größer als n ihrem Betrage nach kleiner als sind.«

Der Schüler, der das Prinzip einer auf Null zustrebenden Zahlenfolge vielleicht schon vorher halbwegs erkannt hatte, versucht krampfhaft dem Text zu folgen, doch schon nach den ersten Worten rauscht der Rest dieser genialen Satzkonstruktion nur noch an ihm vorbei. Wenn er geglaubt hatte, etwas von der Nullfolge begriffen zu haben, so versteht er nun gar nichts mehr. Für ihn ist der Text fremd, verworren, ohne Aufhängemöglichkeit, nirgendwo einzuordnen. Das Gehirn signalisiert: unbekannt, feindlich - Vorsicht! Und wieder die gleiche Folge im Organismus: Die befremdlichen Worte werden über das Ohr in bestimmten Gehirnzellen registriert. Die unbewusste Begleitinformation »das ist alles unverständlich« wird an den Hypotalamus weitergeleitet, der daraufhin über den Sympathikus Impulse zur Nebenniere und in bestimmte Hirnregionen schickt. Prompt reagieren die angeregten Drüsenzellen mit Ausschüttung der Stresshormone Noradrenalin und Adrenalin. Erröten, beschleunigter Herzschlag oder Muskelverspannungen deuten auf eine leichte Stressreaktion. Der Hormonspiegel steigt weiter an, auch im Gehirn, wo unsere Synapsen als Schaltstellen arbeiten. Ihre Schaltfähigkeit wird, wie schon beschrieben, vermindert. Das Gehirn unseres Schülers kann nun auch vertraute Informationen nicht mehr richtig aufnehmen, assoziieren, speichern. Die Worte prallen an ihm ab - Denkblockade. Er sitzt wie in einem Glaskasten und schaltet ab. Und das alles nur wegen eines Verwirrung stiftenden Textes. Da hilft auch kein nochmaliges und abermaliges Wiederholen, kein stundenlanges Büffeln über dem Text, kein noch so guter Wille. Im Gegenteil: Gewaltanstrengung kann Denkblockade und Frustration nur noch verstärken.

Dabei hätte der Inhalt unseres hübschen Satzes von der Nullfolge durchaus einfacher wiedergegeben werden können - wenn es überhaupt sinnvoll ist, solche Definitionen zu geben. Ja je nach der Unterrichtsstufe genügt es vielleicht sogar zu sagen: »Eine Folge von Zahlen geht dann auf Null zu, wenn - ganz abgesehen vom Vorzeichen - jede Zahl kleiner als die vorhergehende ist.« Eine Formulierung, die notwendigerweise unvollkommen ist, die aber das Wesentliche des Prinzips erkennen lässt und auch beim später oft notwendigen Abstrahieren und exakten Formulieren den Rückweg zum eigentlichen Phänomen immer offen lässt. Ganz im Gegensatz zu dem - übrigens wieder authentischen - Schulbuchtext des Lehrers.

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