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Fortsetzung IX. Chronik ausgewählter Ereignisse
Kennzeichnungspflicht für Rindfleisch
Der deutsche Bundestag beschließt am 17.3.2000 mit 639 gegen 30 Stimmen die Aufhebung des nationalen Importverbots für britisches Rindfleisch zum 1.4.; aus Großbritannien direkt oder indirekt importiertes Rindfleisch muss jedoch künftig durch einen sechseckigen Stempel mit der Aufschrift »XEL« gekennzeichnet sein. Weil es sich als einziger EU-Staat weiterhin weigert, die von der Kommission zum 1.8.1999 beschlossene Lockerung des 1996 wegen der Rinderkrankheit BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie) verhängten Exportverbots für britisches Rindfleisch umzusetzen und an dem nationalen Einfuhrverbot festhält, leitet die Kommission am 16.11.1999 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich ein und erhebt am 4.1.2000 Klage beim EuGH; Frankreich verweist auf die nicht auszuschließenden gesundheitlichen Risiken für den Menschen und reagiert mit einer Gegenklage vor dem EuGH. BSE steht im Verdacht, beim Menschen die tödliche Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auszulösen. Vor dem Hintergrund mehrerer Todesfälle in Großbritannien, die vermutlich auf mit BSE-infiziertes Rindfleisch zurückzuführen sind, und neuer BSE-Fälle in Frankreich beschließen die EU-Agrarminister am 18.7. einstimmig eine obligatorische Kennzeichnung von Rindfleisch, in die einer Forderung des EP entsprechend auch Hackfleisch einbezogen wird. Seit 1.9.2000 muss in allen EU-Staaten jedes Stück Rindfleisch mit einem Etikett versehen sein, das den Verbraucher über das Land, in dem das Tier geschlachtet und in dem es zerlegt wurde, informiert; Spezialisten können zudem über einen Referenzcode das Fleisch direkt einem Tier zuordnen und über Zulassungsnummern den Schlachthof und den Zerlegebetrieb erkennen. Ab 1.1.2002 müssen die Angaben zusätzlich das Geburtsland und das Land bzw. die Länder der Mast enthalten. Damit ist es möglich, die Herkunft eines bestimmten Stück Rindfleisches von der Geburt des Tieres bis zum Endverbraucher zurückzuverfolgen. Ein vom deutschen Bundestag Ende Juni 2000 gebilligtes Gesetz, das die Einführung einer umfassenden Kennzeichnung von Rindfleisch (Angabe von Geburts-, Aufzucht-, Schlacht- und Zerlegungsland sowie Referenznummer) in Deutschland bereits zum 1.9. vorsieht, wird vom deutschen Bundestag am 14.7. in den Vermittlungsausschuss verwiesen, weil zwischen Bund und Ländern die Zuständigkeit und die Finanzierung der Etikettierung noch umstritten ist.
EuGH-Urteil gegen Griechenland
Auf Antrag der Kommission verhängt der EuGH am 4.7.2000 erstmals ein Zwangsgeld gegen einen Mitgliedstaat wegen anhaltender Missachtung von Gemeinschaftsrecht: Griechenland muss ab sofort täglich 20000 EUR an die EU zahlen, weil es nicht gegen eine Mülldeponie auf Kreta vorgegangen ist, die nach einem EuGH-Urteil von 1992 gegen EU-Umweltrichtlinien verstößt.
EU-Richtlinie für Altfahrzeuge
Vertreter von EP und Rat einigen sich am 24.5.2000 in einem Vermittlungsverfahren auf eine Richtlinie über Altfahrzeuge. Danach sind die europäischen Autohersteller verpflichtet, alle ab 1.1.2001 erstmals zugelassenen Fahrzeuge und ab 1.1.2007 sämtliche Fahrzeuge des Altbestands kostenlos zurückzunehmen und in behördlich zugelassenen Verwertungsstellen zu entsorgen. Ab 2006 müssen mindestens 80% des Fahrzeuggewichts wieder verwendet oder recycelt werden. Ab 1.7.2003 dürfen bei der Autoproduktion bestimmte Schwermetalle nicht mehr verwendet werden.
Nachdem auch Österreich seinen Widerstand aufgab, einigen sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten am 20.6.2000 in Santa Maria da Feira (Portugal) grundsätzlich auf einen Kompromiss im langjährigen Streit über die Besteuerung von Kapitalerträgen Nichtansässiger. Zur Verwirklichung des Grundsatzes, dass alle in einem EU-Staat ansässigen Bürger die auf ihre gesamten Zinserträge anfallende Steuer entrichten sollten, soll schrittweise ein System der gegenseitigen Erteilung von Auskünften auf breitest möglicher Basis eingeführt werden. Während einer Übergangszeit, die spätestens 2009 endet, können einzelne Mitgliedstaaten, darunter Luxemburg und Österreich, das das Bankgeheimnis in seiner Verfassung verankert hat, eine Quellensteuer erheben, wobei sie dem Wohnsitzland des Anlegers einen angemessenen Anteil an den Steuereinnahmen überweisen; für die anderen Staaten gilt der Informationsaustausch, d.h., diese melden die Auszahlung von Kapitalerträgen an natürliche Personen aus anderen Staaten an deren zuständige Steuerbehörden (sog. Koexistenzmodell). Zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit auf den europäischen Finanzmärkten will man sich in Gesprächen mit wichtigen Drittstaaten, v.a. USA, Schweiz und Liechtenstein, für die Annahme gleichwertiger Maßnahmen in diesen Ländern einsetzen. Die EU-Staaten verpflichten sich, in ihren abhängigen oder assoziierten Gebieten (v.a. Kanalinseln, Insel Man und Gebiete in der Karibik) auf die Einführung derselben Maßnahmen wie in der EU hinzuwirken. Die geplante Richtlinie zur Zinsbesteuerung, über deren Annahme und Durchführung der Rat spätestens Ende 2002 einstimmig beschließen wird, setzt die Aufhebung des Bankgeheimnisses für Nichtansässige voraus und ist u.a. vom Verhalten von Drittstaaten abhängig. Die Besteuerung der Zinserträge ist Teil eines Steuerpakets zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs, das auch einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung sowie eine Richtlinie über Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen in verschiedenen EU-Staaten umfasst.
Streit um Buchpreisbindung beendet
Die seit 1888 geltende grenzüberschreitende Buchpreisbindung zwischen Deutschland und Österreich, die nach Ansicht der Kommission nicht mit den EU-Wettbewerbsregeln vereinbar ist, wird nach langjährigem Streit zum 1.7.2000 durch zwei getrennte nationale Preisbindungssysteme ersetzt. Ein vom österreichischen Nationalrat am 6.6. einstimmig verabschiedetes Gesetz, das auch für den Internet-Handel gilt, sieht für eine Übergangszeit von fünf Jahren die Festlegung der Preise auf nationaler Ebene durch Verleger und Importeure vor; Rabatte bis 5% sind zulässig. Nach einer vom deutschen Bundestag Ende Juni gebilligten Änderung des Wettbewerbsrechts zur Beibehaltung der Buchpreisbindung gilt das sog. Sammelrevers, eine privatrechtliche Vereinbarung zwischen Verlagen und Buchhändlern im deutschsprachigen Raum künftig nicht mehr für die Buchpreisbindung zwischen Deutschland und Österreich; Re-Importe, die ausschließlich der Umgehung der nationalen Preisbindung dienen, sind untersagt.
Ein Gremium mit 62 Mitgliedern (je EU-Staat ein Beauftragter der Regierung und zwei Vertreter der nationalen Parlamente, ein Beauftragter des Kommissionspräsidenten und 16 EP-Abgeordnete; EuGH, Europarat und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte haben Beobachterstatus) unter dem Vorsitz des ehemaligen deutschen Präsidenten Roman Herzog erarbeitet seit 17.12.1999 einen Entwurf einer Charta der Grundrechte der EU, die die auf Unionsebene geltenden Grundrechte zusammenfasst. Nach einem Beschluss des ER von Köln (3. / 4.6.1999) soll diese die allgemeinen Grundsätze der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, und die Grundrechte, die nur den Unionsbürgern zustehen, enthalten sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, wie sie in der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind, berücksichtigen.
Nach Absprache mit den Staats- und Regierungschefs der anderen
EU-Staaten, aber ohne Konsultation Österreichs und noch vor Vorliegen
eines Regierungsprogramms droht Portugals Ministerpräsident
Antonio Guterres , der amtierende Vorsitzende des Rats, im Namen von 14 der
15 EU-Regierungen in einer am 31.1.2000 veröffentlichten Erklärung, Österreich
im Fall einer Regierungsbeteiligung der rechtsgerichteten Freiheitlichen
Partei Österreichs (FPÖ) politisch zu isolieren: Die übrigen 14
EU-Staaten würden die offiziellen bilateralen Kontakte mit Vertretern
einer solchen Regierung suspendieren, österreichische Kandidaten für
ein Amt in einer internationalen Organisation nicht mehr unterstützen
und die Botschafter Österreichs nur noch auf technischer Ebene
empfangen. Mit der Vereidigung der neuen österreichischen
Koalitionsregierung aus konservativer Volkspartei (ÖVP) und FPÖ am
4.2. treten die umstrittenen bilateralen Maßnahmen von 14 EU-Staaten gegen
das EU-Land Österreich in Kraft. Von der politischen Isolierung Österreichs
nicht betroffen ist die Zusammenarbeit in den EU-Institutionen, jedoch
werden wiederholt Ratstagungen davon überschattet. Die Kommission, die
die Besorgnis der 14 von 15 EU-Regierungen teilt, hatte am 1.2.
einstimmig Österreich ermahnt, den EU-Vertrag einzuhalten; sie werde
die Situation beobachten, schränkt aber ihre Beziehungen zu diesem
EU-Staat nicht ein. Der EU-Vertrag sieht Sanktionen gegen einen
Mitgliedstaat nur bei schwerwiegender und anhaltender Verletzung der
Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte
und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit vor. Das EP verurteilt
in einer am 3.2. mit 406 gegen 53 Stimmen bei 60 Enthaltungen
verabschiedeten Resolution die »beleidigenden, rassistischen und
fremdenfeindlichen« Äußerungen des FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider,
unterstützt aber die Position der Kommission. Der Vorstand der Europäischen
Volkspartei (EVP) beschließt am 6.6. auf Empfehlung eines von ihm
eingesetzten dreiköpfigen Beobachtungskomitees die volle
Wiedereingliederung der ÖVP in die EVP. Die ÖVP hatte am 6.4. ihre
aktive Teilnahme an den EVP-Gremien suspendiert; im Gegenzug hatten
EVP-Abgeordnete aus Belgien, Frankreich und Italien auf ihre Forderung
nach Ausschluss der ÖVP aus der EVP verzichtet. Österreichs Bundespräsident
Thomas Klestil , Bundeskanzler
Wolfgang Schüssel , der die Maßnahmen wiederholt als unfair, undemokratisch
und kontraproduktiv bezeichnet, und andere Regierungsvertreter fordern
vergeblich eine sofortige Beendigung der politischen Ausgrenzung Österreichs.
Der von der Regierung Österreichs am 5.5. beschlossene Aktionsplan zur
Aufhebung der Sanktionen zielt auf Aufklärung und Verteidigung; am
29.10. oder 26.11. soll in Österreich eine Volksabstimmung zur EU und
zu den Sanktionen stattfinden, falls diese nicht aufgehoben oder ein
Zeitplan für deren Beendigung vorgelegt wird. Der von 14 EU-Regierungen
beauftragte Präsident des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte, Luzius Wildhaber (CH), ernennt Anfang Juli mit
Zustimmung Österreichs die drei »Weisen« – den ehemaligen Präsidenten
Finnlands, Martti Ahtisaari , den früheren spanischen EU-Kommissar Marcelino Oreja
und den deutschen Völkerrechtler Jochen Abraham Frowein –, die einen
Bericht über die Haltung der österreichischen Regierung in Bezug auf
die gemeinsamen europäischen Werte, insbesondere die Rechte von
Minderheiten, Flüchtlingen und Einwanderern, sowie über Entwicklung
und politische Natur der FPÖ erstellen sollen; auf dessen Grundlage
werden die 14 EU-Staaten ihre bilateralen Beziehungen zu Österreich überprüfen.
Die Sanktionen bleiben vorerst in Kraft.
Quelle: Der Fischer Weltalmanach 2001. Fischer Taschenbuch Verlag
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