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Antibiotika

Das Ende einer Wunderwaffe

Die meisten Bakterien sind harmlos - viele jedoch tödlich. Mit den Antibiotika schien es möglich, den Kampf gegen die Erreger zu gewinnen. Doch zu häufig eingesetzt wird die Waffe stumpf.

Mittelohrentzündung Immer mehr Keime sind resistent gegen Antibiotika. Während die einen das Penicillin neu erfinden wollen, sehen die anderen im Antibiotika-Missbrauch eine Ursache für Asthma und Allergien.

Bakterien sind fast überall zu finden - auf Oberflächen, in Flüssigkeiten, in Nahrungsmitteln, im Mund und im Verdauungstrakt von Mensch und Tier. Die meisten sind völlig harmlos, sogar lebensnotwendig. "Gute" Bakterien regulieren die Verdauung, sie halten die Haut gesund, sie schützen vor aggressiven Artgenossen. Jede einzelne unserer Körperzellen bezieht aus eingebürgerten Bakterien, den so genannten Mitochondrien, ihre Lebensenergie.

Kampf auf Leben und Tod

Und auf der anderen Seite gibt es die feindlichen Bakterien. Die Verursacher der Diphtherie, des Wundstarrkrampfes, der Cholera oder der Tuberkulose. Pneumokokken, die wichtigsten Auslöser der Lungenentzündung vermehren sich derart aggressiv und schnell, dass binnen 48 Stunden nur einer gewinnen kann: entweder die Bakterien - dann stirbt der Mensch - , oder die Immunabwehr, die den Bakterien den Garaus macht.

Lange Zeit hatte die Medizin kaum wirksame Mittel gegen diese Volksseuchen. In der Natur kommen zwar antibakterielle Wirkstoffe vor, etwa Knoblauchsaft, Fingerhutextrakt oder Teebaumöl. Sie können die körpereigenen Abwehrkräfte unterstützen, bieten aber keine sichere Hilfe wenn es wirklich Ernst auf Ernst kommt. Bis die Antibiotika entdeckt wurden.

Ein Schimmel mit Charakter

Dieser spezielle Schimmelpilz hat eine hervorstechende Eigenschaft: Er empfindet Bakterien als Rivalen. Sie stören ihn und er vermag es, sie mit seinen Stoffwechselprodukten zu vergiften oder zumindest gewaltig in ihrem Wachstum zu hemmen. Bakterien nehmen die Herausforderung jedoch rasch an. Sie reagieren schnell und sensibel auf Attacken. Sie teilen sich flott, manche innerhalb von Minuten, und jene, die überleben, sind ein Stück widerstandsfähiger gegen die Angreifer. Bakterien lernen schnell, bestimmte Enzyme zu bilden, mit denen sie sich gegen die Wirkstoffe schützen. Durch diese natürlichen Gegenstrategien entwickeln sich mit der Zeit immer aufs Neue widerstandsfähigere, resistente Stämme.

Wunderwaffe

Dabei hatte alles so viel versprechend begonnen. Nach ihrem erfolgreichen Einsatz gegen Ende des Zweiten Weltkrieges galten Antibiotika für lange Zeit als Wunderwaffe der Medizin. Menschen, die kurz zuvor aufgegeben worden wären, waren nun binnen weniger Tage wieder auf den Beinen. Die leisen Killer der Lazarette und Bettenstationen hatten plötzlich einen Widerpart, die Ärzte eine machtvolle Waffe in der Hand - ein Heilmittel, wie es sich die Menschen bislang kaum zu träumen gewagt hatten, und damit ein Triumph der modernen Medizin.

Blosser Verdacht genügte

Die pharmazeutische Industrie stürzte sich auf das Wundermittel. In immer neuen Varianten wurde es synthetisiert. In den westlichen Industrienationen verschwand die Tuberkulose. Schwere Atemwegsinfektionen, sogar Lungenentzündungen und viele Kinderkrankheiten hatten nun ein Therapeutikum, das Leben retten konnte. Da die Erreger vieler Infektionskrankheiten erst in Laboruntersuchungen nach mühsamer Anzucht identifiziert werden können, wurden Antibiotika schon auf bloßen Verdacht hin verschrieben. Auch wenn die wahren Verursacher der Erkrankung Viren, Pilze oder andere Parasiten waren, gegen die Antibiotika gar nichts ausrichten können. Beginnend in den fünfziger Jahren in den USA breitete sich eine regelrechte Verschreibungswut auf alle Industrienationen aus.

Die Spirale ist überdreht

Der unbedachte Umgang mit den Antibiotika rächte sich: Zunächst vereinzelt, dann immer häufiger traten Resistenzen auf. Pneumokokken waren plötzlich immun gegen Penicillin, Staphylokokken gegen Meticillin und Enterokokken gegen Vancomycin. Immer mehr Antibiotika versagten. Den Medizinern blieb nichts als die Flucht nach vorn. Stärkere Präparate, höhere Dosierungen und Kombi-Präparate sollten das einstige Wunder am Leben erhalten.

Während man in der medizinischen Praxis zu immer neuen Variationen und Breitband-Antibiotika griff, beschleunigte das auch die Wandlungsfähigkeit der Bakterienstämme. Das Flächen-Bombardement konnte die bakteriellen Krankheitserreger zunächst zwar immer wieder vertreiben, jede Angriffswelle hinterließ aber stabilere Keime. Schließlich drangen besiegt geglaubte Plagen wie die Tuberkulose tief in die wohlhabenden Länder vor.

Der Traum von der keimfreien Umgebung

Nicht nur die Medizin trug zu diesem Dilemma bei. Antibiotika lassen als Futterzusatz seltsamerweise auch Tiere schneller wachsen. Ohne den Effekt genau zu verstehen, sind sie bis heute als "Leistungsförderer" vielen Futtermitteln beigemengt.

Gleichzeitig wurde den Keimen fast hysterisch der Kampf angesagt. Der hemmungslose Gebrauch von Reinigungs- und Desinfektionsmitteln verwandelte den Haushalt in möglichst keimfreie Zonen.

"Dabei lebt der Mensch in Symbiose mit Bakterien", sagt Renée Schröder vom Institut für Mikrobiologie und Genetik der Universität Wien. "Es herrschen vollkommen übertriebene Vorstellungen von Hygiene in Haushalt und Körperpflege."

Durch Medikamenteneinsatz und Desinfektionsmittel wird die Abwehrkraft des Organismus, dem eben auch die Bakterien angehören, empfindlich geschwächt. "Auf der keimfrei gemachten Haut breiten sich Pilze ungehindert aus", erklärt Schröder. "Auch die zunehmenden Allergien sind in diesem Zusammenhang zu sehen."

Antibiotika und Allergien

Dass Antibiotika selbsttätig Krankheiten verursachen können, wurde bislang nicht für möglich gehalten. Nur vereinzelt und am Rande von Studien ergaben sich immer wieder Hinweise darauf. So in einer Langzeitbeobachtung von mehr als 3000 englischen Kindern der Jahrgänge 1975 bis 1984, die vor kurzem im Fachmagazin Thorax veröffentlicht wurde. Die Oxforder Lungen-Spezialisten Sadaf Farooqi und Julian Hopkin hatten nach Risikofaktoren für Allergien bei Kindern gesucht und dabei alle möglichen sozialen und medizinischen Parameter aufgezeichnet: Vererbungsrisiko, Rauchen, Stillen oder Flaschennahrung, niedriges Geburtsgewicht und auch: Antibiotikaeinsatz während der ersten beiden Lebensjahre.

Als bedeutender Risikofaktor wurde, wie erwartet, die erbliche Komponente identifiziert. Wenn die Mutter Allergikerin war, hatte der Nachwuchs ein nahezu doppelt so hohes Risiko, auch an Krankheiten wie Heuschnupfen, Asthma oder Neurodermitis zu erkranken. Dieser Risikofaktor wurde nur noch von einem übertroffen: dem Antibiotikaeinsatz. Kinder, die während ihrer ersten beiden Lebensjahre mit Antibiotika behandelt worden waren, hatten ein mehr als doppelt so hohes Risiko, später Allergiker zu werden, als Kinder, denen dies erspart geblieben war.

Die Reifung des Immunsystems

Eine mögliche Erklärung für diesen Zusammenhang liefert das langsam wachsende Verständnis der Funktionen des Immunsystems. Es hat, grob gesagt, zwei Arme: einen relativ simplen, der heftige Infektionen, beispielsweise durch Würmer und andere Nematoden, abfängt, und einen wesentlich komplizierteren, der erst nach der Geburt ausreift.

Dies ist aus zweierlei Gründen von der Evolution gut durchdacht: Wäre die Abwehrbereitschaft schon im Uterus voll entwickelt, würde der Organismus des Kindes ständig in Konflikt geraten mit den "fremden" Nährstoffen, die es ständig von der Mutter bekommt. Außerdem macht es einen wesentlichen Unterschied, ob ein Kind in Alaska oder in Äthiopien zur Welt kommt. Die so genannte Th2-Immunantwort lässt sich Zeit mit der Reifung. Sie reagiert auf lokale Gefahren, lernt mit jeder Infektion und reift damit im Lauf der ersten drei Lebensjahre.

Eine gesunde Portion Dreck

Jede Antibiotika-Kur in dieser Phase greift wesentlich in den Reifeprozess des Organismus ein, weil ihm damit die Auseinandersetzung mit Infektionen abgenommen wird. "Wenn dieses Trainingscamp für das Immunsystem unterbunden wird, bleibt am Ende ein unreifes System zurück", erklärt die Münchner Allergie-Expertin und Kinderärztin Erika von Mutius. "Wahrscheinlich benötigt der Organismus eine gesunde Portion Dreck und eine Hand voll Infektionen, damit er sich richtig entwickeln kann."

Was tun bei Kinderkrankheiten?

Gerade bei Kindern fällt es aber Ärzten und Eltern extrem schwer, Infektionen einfach hinzunehmen und nicht mit der bestmöglichen Waffe einzuschreiten. In schweren Fällen retten Antibiotika noch immer Leben. Es bleibt in jedem einzelnen Fall Abwägungssache, wie zu entscheiden ist. Der Tatsache, dass Antibiotika zu oft verschrieben werden, sind sich mittlerweile aber auch die meisten Kinderärzte bewusst.

In einer großen US-Studie aus dem Vorjahr wurden minuziös Fehlverschreibungen - beispielsweise bei viralen Infekten - aufgelistet und die verantwortlichen Ärzte nach ihren Entscheidungskriterien gefragt. Nur ein Bruchteil hatte einfach die falsche Diagnose gestellt. Die meisten gaben an, dass sie sicherheitshalber zu Antibiotika gegriffen hatten, um eventuell nachfolgenden bakteriellen Infekten vorzubeugen. Und gar nicht so wenige meinten, sie hätten diese wirksamen Medikamente deshalb verschrieben, weil sie von den Eltern ausdrücklich darum gebeten worden waren.

Paradefall Mittelohrentzündung

Als Hauptindikation für Antibiotika-Verschreibung im frühen Kindesalter gilt die Mittelohrentzündung. Sie kann sowohl durch Viren als auch durch Bakterien ausgelöst werden. Häufig folgen die Keime auch aufeinander. Fast jeder Arzt verschreibt hier Antibiotika.

Wie relativ der Erfolg dieser Methode ist, zeigte eine kürzlich im British Medical Journal veröffentlichte niederländische Studie, die landesweit an 53 Kinderpraxen durchgeführt worden war. Insgesamt wurden 240 Kinder, die im Alter zwischen sechs Monaten und zwei Jahren an Mittelohrentzündung erkrankt waren, im Verlauf der Infektion begleitet. Die Forscher der Universiät Utrecht behandelten die Hälfte der Kinder mit Placebo, die andere mit dem Antibiotikum Amoxicillin. Dann notierten sie penibel, wie oft die Kinder weinten, die Fieberwerte und die resultierenden Komplikationen. Es ergaben sich kaum Abweichungen zwischen den beiden Gruppen. Der einzig signifikante Unterschied war die Dauer des Fiebers. Während die Antibiotika-Patienten schon nach zwei Tagen fieberfrei waren, dauerte es bei den Placebo-Babys im Schnitt drei Tage.

Aus: "Die Süddeutsche - online", 22.11.00; von Frank Hartmann


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