netSCHOOL MUSIK Einführung

aus: Elmar Bozetti, Einführung in musikalisches Verstehen und Gestalten, Diesterweg Verlag, Frankfurt, 1988 (Fortsetzung)

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Zur Erweiterung europäischer Musik
 
(S. 69) "Eine der spektakulärsten Folgen der weltweiten musikalischen Kommunikation in unseren Tagen ist der rasante Aufschwung, den die authentische außereuropäische Musik im Abendland nimmt...
Die Jugend glaubt in vielen Formen der außereuropäischen Musik eine Atmosphäre, ein Klima, eine Gefühlswelt zu erkennen, mit der sie sich identifizieren kann. Diese Musik scheint ihr die Vorstellung von einer Alternative zu der Welt zu vermitteln, von der sie sich distanzieren will und gegen deren Kult des Rationalen, der Effizienz, des Profits und Erfolgs sie sich auflehnt. (Rudolf Heinemann, Außereuropäische Musik im Unterricht? in: Musik und Bildung 10/1970, S.419.)

"Einer der wichtigsten Gründe für die Einbeziehung außereuropäischer Musik in den Unterricht ist die Tatsache, dass man durch den Gegensatz das Wesen unserer eigenen Musik besonders deutlich erkennt. Hierzu müssen wir europäische und außereuropäische Musik miteinander vergleichen. Eine isolierte Betrachtung der europäischen Musik ist auch deshalb nicht sinnvoll, weil diese seit Jahrhunderten Elemente außereuropäischer Musik aufgenommen hat, besonders stark in den letzten Jahrzehnten. " (Siegmund Helms, Außereuropäische Musik, Wiesbaden 1974, S. 6.)
 
"Die Schüler erfahren, dass der Dreiklang usw. nicht als Norm aller Musik gelten kann, sondern dass es eine verwirrende Fülle von Tonordnungen und Klängen in verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen gibt. " (Peter Koch, Pädagogische Möglichkeiten mit außereuropäischer und moderner europäischer Musik, in: Musik im Unterricht, Mainz 1967, Heft 11, S. 366.)

Musik außereuropäischer Kulturen benutzt eine Fülle von Tonleitern unterschiedlicher Art. Die unterschiedlichen Tonleitern dienen ihr als Voraussetzung für eine differenzierte Gestaltung im melodischen Bereich. Die traditionell-europäische Musik hat sich innerhalb ihrer Geschichte in einem Auswahlprozess auf zwei Tonleitern konzentriert: die Dur- und die Molltonleiter. Was ihr dabei an melodischer Differenziertheit verlorengegangen ist, hat sie durch Ausbau der Mehrstimmigkeit und durch Komplexität des harmonischen Denkens gewonnen. Die außereuropäische Musik hat demgegenüber nur vergleichsweise einfache Formen der Mehrstimmigkeit entwickelt. Indem die europäische Musik die Töne der Tonleiter nicht nur als Material für die Gestaltung linearer Melodien, sondern in erster Linie für die Schaffung harmonischer Räume und Raumbeziehungen benutzt, werden aus den Tonleitern Tonarten.

In Dvoraks Sinfonie "Aus der Neuen Welt" wird deutlich, dass die traditionell-europäische Musik Tonleitern jenseits des herrschenden Dur-Moll-Prinzips verwendet, um Assoziationen an Folklore hervorzurufen. (S. 75)

Naturphänomen Obertonreihe

Haydn (wie auch Mozart und Beethoven) standen nur sogenannte Naturhörner (ohne Ventile) zur Verfügung, die im Prinzip nur die sogenannten Naturtöne spielen können. Dazu muss man folgendes wissen:

Jeder Ton ist in seiner Tonhöhe bestimmt durch seine Schwingungs-Grundfrequenz. Neben seiner Schwingungs-Grundfrequenz enthält er aber noch die Frequenzen seiner Obertöne, die das ganzzahlige Vielfache der Frequenz des Grundtones ausmachen und deren stärkeres oder schwächeres Mitklingen der Hörer als Klangfarbe hört.
     Frequenz des Grundtones z. B.: 440 Hz (a')
Frequenzen der Obertöne:2 · 440 Hz
 3 · 440 Hz
 4 · 440 Hz
 usw.

Durch Modifikation des Anblasdrucks kann der Spieler eines Blasinstrumentes erreichen, dass die Tonhöhe auf den jeweils gewünschten Oberton umspringt. Die auf diese Weise hörbar werdende Oberton- oder Partialtonreihe (auch Obertonspektrum genannt) ist für die Ordnung unseres Tonsystems von elementarer Bedeutung.

Obertonreihe des Tons C. Der 7., 11. und 14. Teilton liegt etwas tiefer, der 13. etwas höher als notiert.
Partialtöne:1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.
Obertöne:Grund-
ton
1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.
Frequenz:f2f3f4f5f6f7f8f9f10f11f12f13f14f15f16f
in Hz:651301952603253904555205856507157808459109751040

Abgesehen vom obertonfreien sogenannten Sinuston, der elektroakustisch zu erzeugen ist, klingen bei jedem Ton Obertöne mit. (Was nach herkömmlichem Sprachgebrauch "Ton" genannt wird, wird deshalb in der Akustik als "Klang" bezeichnet.) Die in einem Ton neben dem Grundton mitklingenden Obertöne werden als Klangfarbe gehört. Mit zunehmender Stärke und Anzahl der Obertöne wird die Klangfarbe schärfer (der Ton der Trompete z. B. hat mehr und lautere Obertöne als der Ton der Flöte), das Fehlen der geradzahligen Partialtöne macht die Klangfarbe eines Tones hohl (z. B. die Klangfarbe der Klarinette). Man kann Klangfarbe "synthetisch herstellen", indem man einer Grundfrequenz bestimmte Frequenzen entsprechend der Partialtonreihe hinzufügt. Ein solches Verfahren ist beim Mixtur-Register der Orgel immer schon angewendet worden, und der Syntheziser hat es zur Perfektion entwickelt. Mixturen - Mischklänge, in denen bestimmte Obertöne verstärkt werden - lassen sich auch durch Kombination traditioneller Melodieinstrumente realisieren. (S. 78f)

Zur Vertiefung und Diskussion

Der Dreiklang als Naturerscheinung
"Die Töne 1-6 der Obertonreihe (die Oktave, Quinte, Quarte, große und kleine Terz enthaltend) und ihre höheren Oktaven (das Doppelte, Vier-, Achtfache ihrer Ordnungs-, Schwingungs- und Proportionszahl) zeigen uns den ausgebreiteten Dur-Dreiklang, für den geschulten wie für den einfältigen Geist gleicher Weise eine der großartigsten Naturerscheinungen; einfach und überwältigend wie der Regen, das Eis, der Wind. So lange es eine Musik gibt, wird sie immer von diesem reinsten und natürlichsten aller Klänge ausgehen und zu ihm sich auflösen müssen, der Musiker ist an ihn gebunden wie der Maler an die primären Farben, der Architekt an die drei Dimensionen. In der Komposition kann der Dreiklang oder seine unmittelbaren Erweiterungen nur auf kurze Zeit vermieden werden, wenn den Zuhörer nicht vollkommene Verwirrung erfassen soll."
(Paul Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1940, S. 39.)

Die Ideologie vom Natürlichen in der Musik
"Es ist eine alte, von den Musiktheoretikern gern gehegte Vorstellung, dass das Musikalisch-Allgemeine als Natur gilt. Dreiklangwesen, Kadenzfolgen, regelmäßige Aufeinanderfolge von betonten und unbetonten Schlagzeilen oder Takten, ja selbst Viertakter und achttaktige Perioden werden gern als natürlich angesprochen. Ob diese Bezeichnung zu Recht oder zu Unrecht besteht, mag unentschieden bleiben. Nirgends steht geschrieben, dass in der Kunst das Natürliche einen bevorrechtigten Platz haben müsse. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hinter der apologetischen Verwendung des Begriffs Natur in der Musiktheorie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sich eine reaktionäre Gesinnung verbirgt. Vorher war er das Gegenteil, der Gegenbegriff zu einer bloß handwerklichen Kunstfertigkeit. Der Begriff der Natur meinte Unabhängigkeit von Systemzwang und Konvention. Er stand für Freiheit. Wie der Naturbegriff in der Musiktheorie missbraucht wird, mag am Beispiel der Obertonreihe exemplifiziert werden. Naturphänomene sind die Obertonreihe als ganze und alle einzelnen Intervallrelationen, die in ihr enthalten sind. Die einfachen, in unserem traditionellen Tonsystem bequem aufgehenden, als natürliche besonders zu akzentuieren und die anderen, komplizierteren, weil nicht ins System passend, als unnatürlich zu verwerfen, ist willkürlich, aber nicht zufällig. Wenn eine Unterscheidung zwischen den in der Relation der Schwingungszahlen einfacheren Intervallen zu den komplizierteren durchgeführt werden soll, so sollte man nicht die Begriffe 'natürlich' und 'künstlich' oder 'natürlich' und 'unnatürlich' oder gar 'widernatürlich' wählen, sondern etwa 'naheliegend' und 'nicht naheliegend' oder 'fernerliegend', allenfalls 'einfach' und 'kompliziert'. Das Einfache oder Naheliegende aber als natürlich hervorzuheben, und das Fernliegende oder Kompliziertere als unnatürlich oder gar als widernatürlich auszuschließen, ist nicht logisch, sondern nur ideologisch begründbar. Eine Musik aber, bei der die vorherrschenden Tonbeziehungen kompliziert sind, also die nicht naheliegenden Intervalle das Klangbild beherrschen, allein dieses Umstandes wegen als widernatürlich zu verwerfen, enthüllt die Ideologie."
(Rudolf Stephan, Das Neue der Neuen Musik, in: Hans Peter Reinecke, Das musikalisch Neue und die Neue Musik, Mainz 1969, S. 51.) (S. 86f)


Verbindung von musikalischer Zeit- und Raumgestaltung

Musikalische Zeit- und Raumgliederung sind in den Kapiteln 1 und 2 nur aus methodischen Gründen isoliert behandelt worden. Dass Musik Zeitkunst und Raumkunst zugleich ist, macht uns die einfachste Melodie deutlich, die steigt oder fällt, sich also im Raum und in der Zeit bewegt. Entsprechend kennt unsere Notenschrift vertikale und horizontale Anordnung der Noten. Auch musikalische Harmonieverläufe zeigen, dass Raum- und Zeitgliederung zusammenwirken. Dass wir die Töne von Akkorden übereinander notieren, ist ein Zeichen dafür, dass sie uns eine Raumerfahrung vermitteln, aber wir nehmen den Zusammenklang in der Musik nur als wechselnden Zusammenklang wahr: Wir hören den Einzelakkord immer als Glied einer Akkordfolge, d. h. auch die Wahrnehmung der Harmonik ist an Raum- und Zeiterlebnis zugleich gebunden. (S. 98)

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