DEUTSCH Legasthenie |
aus: "Lernchancen", Heft 9, Mai 1999, S. 19 ff
Sita Vellguth
Lesen- und Schreibenlernen
"Darf ich heute wieder an den Computer?" So begrüßen mich die meisten meiner LRS-Kinder, auf das "Hallo!" verzichten sie in der Regel. Und das dürfen sie dann auch für die letzte Viertelstunde unseres Settings. Mit "an den Computer" meinen die Kinder in meiner logopädischen Praxis das Arbeiten mit den Lernspielen von CESAR LESEN 1.0, die ich ursprünglich einmal nur für sie entwickelt hatte. Neuerdings dürfen sie die neuen in der Entwicklung stehenden Lernspiele von CESAR SCHREIBEN 1.0 testen und begutachten.
Seit vielen Jahren stoße ich in meinen Therapien mit LRS-Kindem immer wieder an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und ihres Konzentrationsvermögens. Ein Mehr an Lernen, Üben, Wiederholen bewirkt geradezu das Gegenteil von dem gewünschten Resultat. Blockaden schleichen sich ein, die Kinder bekommen einen glasigen abwesenden Blick und werden blass oder rot im Gesicht.
Spätestens hier weiß der versierte Therapeut, dass er am Ende seiner Möglichkeiten steht, wenn er so weiter macht. Wie heißt es immer so schön: "Das Kind dort abholen, wo es steht", und frei nach Watzlawick: "Mehr desselben ist nicht das Bessere." Wenn das Üben und ständige Wiederholen nicht klappt, muss das Spiel her! Hier bietet der Multimedia-Computer sich geradezu an, da er auf vielen Wahrnehmungskanälen gleichzeitig Angebote macht, die noch dazu Interaktivität erlauben. Überdies genießt der Computer bei Kindern höchste Attraktivität. Sie haben keine Angst vor ihm, er wird sie nicht bestrafen, und dies ist der Motor für ihre Lernbereitschaft.
Hintergründe
Sieht man die Schreibprodukte der Kinder genauer an, kann man bei etwas Beobachtung während des Schreibprozesses immer wieder feststellen: Das Kind hält im Wort inne, überlegt oder korrigiert, manchmal sogar das primär richtige Wort, um darin schnell weiter zu schreiben und an der nächstbesten Stelle einen nicht nachzuvollziehenden Fehler einzubauen. Für die Eltern, die das Diktat zum x-ten Mal geübt haben, völlig unfassbar. Analysiert man das Geschehen, so kann fast immer unmittelbar vor dem Fehler der Auslöser hierfür gefunden werden. Es geht dort um eine Lupenstelle in einem Wort, das für das Kind den Zweifel aufwarf, wie sie geschrieben werden soll. Dafür braucht das Kind soviel Konzentration und Entscheidungskraft, dass die Energie für das Thema Rechtschreibung in der nächsten Sequenz nicht mehr parat ist.
Der Text eines Kindes sieht typischerweise so aus: Ein und dasselbe Wort weist bis zu drei Schreibweisen auf. Das Kind setzt sein Gedächtnis für das Wortbild nicht ein. Dies deutet daraufhin, dass es das Wort jedes Mal neu konstruieren muss, um es aufzuschreiben. Die Kinder mit auditiven Teilleistungsschwächen sind daher doppelt gefordert, denn sie haben Schwierigkeiten, das Gehörte angemessen zu verarbeiten, gerade, wenn es noch einen Störpegel in der Klasse gibt.
Wenn ich ein gutes Vertrauensverhältnis mit den Kindern aufgebaut habe, bin ich erstaunt, wie offen sie mir gegenüber ihre Emotionen schildern. So höre ich immer wieder von ihnen, wie sinnlos sie das Lesen und Schreiben empfinden: Es dauert einfach zu lange, um ihnen von Nutzen zu sein und macht keinen Spaß. Wenn es keinen Nutzen bringt und keinen Spaß macht, ist die Sache sinnlos. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Das, was das Kind nicht kann, will es nicht üben - das wollen wir Erwachsene im Übrigen auch nicht gerne - und das, was es nicht üben will, wird es später nicht können. Die visuelle Gedächtnisleistung in Bezug auf die Wortbilder ist für diese Kinder ohnehin nur schwer zu erlernen; wie sollen sie dies bewältigen, wenn ihnen zudem noch die Übung fehlt?
Da unser schulisches System den Wert eines Schülers nicht selten an seinen Leistungen misst und Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben nun einmal sehr hoch bewertet werden, erleidet das sensibilisierte Kind einen massiven Verlust an Selbstwertgefühlen und Selbstbewusstsein. Nicht selten schleichen sich latente Sehnsüchte nach einer besseren Welt, dem jenseits oder das Abdriften in Tagträume ein. Das Kind scheint für uns nicht mehr erreichbar zu sein.
Welches sind möglicherweise die Ursachen für die erschwerte Gedächtnisbildung sowohl für Phonemerfassung als auch für Wortbilder, die sich aus einer bestimmten Sequenz von Buchstaben ergeben? Hier mögen nur wenige Hinweise aus der Anamnese und aus der Diagnostik anreißen, worin ich - so wie viele andere auch - das Problem sehe.
Auffallend viele Kinder sind schon in der Vorschulzeit in einer logopädischen Behandlung gewesen. Wenn man genau hinschaut, bemerkt man, dass sie im Falle einer Lautbildungsstörung den Laut oft recht schnell gelernt haben, ihn aber nicht oder nur spät in die Spontansprache übertragen konnten. Offensichtlich hat sich hier eine Automatisierung nicht einstellen wollen. Aber auch die Unersetzbarkeit dieses Lautes durch einen anderen scheint ihnen nicht wirklich klar zu werden, als wollten sie sagen, "Ich meine, was ich sage." und nicht "Ich sage, was ich meine." Einige Kinder hatten zusätzlich einen Dysgrammatismus. Er besteht sowohl in einer veränderten Morphologie (Kasuslehre, Verbflexionen, Pluralbildung usw.) als auch in einer verkürzten beziehungsweise veränderten Syntax. Am deutlichsten fällt hier die Satzumstellung (Verbendstellung und das Auslassen von Funktionswörtern) ins Gewicht. Auch hier scheint nicht Form oder Reihenfolge den Inhalt des Gesagten zu bestimmen oder besser gesagt zu symbolisieren. Es scheint so zu sein, dass das Gemeinte nicht oder nur schwer in etwas zu Sagendes oder zu Schreibendes übersetzt werden kann. Ein Symbolproblem? Vielleicht auch nicht, wenn wir daran denken, welche großen Probleme Philosophen wie Wittgenstein mit dem Mitteilungswert der gesprochenen und geschriebenen Sprache verbanden.
Eltern oder nähere Verwandte, oft auch Geschwister haben oder hatten ähnlich gelagerte Probleme. Fast durchweg berichten die Eltern, ihr Kind sei sehr schnell auf die Welt gekommen und habe gar nicht gekrabbelt, sondern sofort laufen wollen. Man könnte hier vielleicht interpretieren, dass die Kinder die Welt im Sturm erobert haben. Keine Zeit für ein Step by Step. Mit soviel Eile im Leben lässt sich Lesen und Schreiben nur schwer lernen.
Auffälligkeiten in der Diagnostik
Kinder mit LRS schreiben entweder zu schnell, unleserlich und fahrig. Hier hat man das Gefühl, sie schreiben schneller, als sie denken. Daher können sie keine Antizipation betreiben. Es entwickelt sich keine natürliche "Hab-Acht-Haltung". Dieses zeigt sich auch im Sprechakt: Sie sprechen zu schnell, oft mit Polter- und/oder Stotterkomponente, haben Satzabbrüche und sind dadurch leicht unverständlich. Oder sie schreiben sehr langsam mit großem Druck, brauchen bei Hausaufgaben extrem lange und bewältigen Klassenarbeiten nicht in der vorgegebenen Zeit. Es sind oft sorgfältige Kinder, die aber den Kontakt zum geschriebenen Wort noch während des Schreibaktes verlieren. Diese Kinder haben erheblich mehr Schwierigkeiten, den Leseprozess erfolgreich zu bewältigen. Beim Frostig-Test fallen die Kinder dadurch auf, dass sie auch hier eine langsamere visuelle Analysefähigkeit aufweisen. Oft ist der Prozentrang im Normbereich; allerdings brauchen die Kinder erheblich längere Zeit als vorgesehen, vor allem bei der Figur-Grund-Wahmehmung.
Bei vielen Kindern fällt mir auf, dass Auge und Ohr kontralateral bevorzugt benutzt werden. Dieses prüfe ich mit der Aufgabe durchs Schlüsselloch zu sehen und der Frage, welches Ohr am Telefonhörer bevorzugt wird. Weiterhin berichten die Eltern recht häufig, dass das Kind in der Vorschulzeit relativ lange nicht klar rechts lateralisiert war, sondern zeitweilig auch zur Linkshändigkeit tendierte.
Bevor die Familie eines betroffenen Kindes Hilfe von außen aufsucht, haben sich meiner Erfahrung nach zu Hause vielfach schon Dramen abgespielt. Der Verwunderung darüber, warum das Kind sich die einfachsten Wörter nicht merken kann, folgt die Verärgerung darüber, dass trotz vielen Übens und Engagements vonseiten der Eltern die Noten nicht besser werden. Oft verschlechtern sich die Leistungen beim Üben eklatant, weil die Kinder Blockaden aufbauen. Viele Eltern berichten von der Scham gegenüber Lehrern, weil sie befürchten, der Lehrer sei der Meinung, zu Hause werde nicht geübt. Sie schämen sich auch dann noch, wenn ihnen Verständnis entgegengebracht wird. An dieser Stelle empfinde ich es immer wieder hilfreich für Eltern, wenn sie erleben, dass der Lehrer auf sie zukommt und vorschlägt, gemeinsam das Kind zu unterstützen, also zusammen ein Team zu bilden. Gibt es eine therapeutische Betreuung im Hintergrund, kann sie sehr gut ins Konzept der gemeinsamen Problemlösung integriert werden.
Um den Ursachen der Ängste der Eltern auf die Spur zu kommen, kann es helfen, nach ihrem
schulischen Werdegang zu fragen. Recht häufig sind die Eltern selbst Betroffene
einer Lese-Rechtschreib-Störung. Ihre damalige Hilflosigkeit und ihr Gefühl der Inkompetenz
paart sich fatal mit der aktuellen Hilflosigkeit der Kinder.
Noch Jahre später haben Eltern das Gefühl, bei Fragen der Rechtschreibung nicht helfen zu
können, obwohl sie es sollten. Hieraus leiten sich dann leicht Schuldzuweisungen ab, konfrontiert das
Kind doch die Eltern mit der eigenen Unzulänglichkeit. Anstatt die Eltern in ihrer Unfähigkeit zu
bestätigen, sollten Lehrer hier die Chance ergreifen, das Kind mit den Eltern "in ein Boot zu
setzen". Wie viel Erleichterung spüre ich bei Mutter und Vater, wenn ich ihnen
sage, dass ich mir ganz gut vorstellen kann, warum gerade sie so ein Kind haben.
Die Aufgabe ist hier, Solidarität zu erzeugen, wo vorher der Leistungsdruck beziehungsfeindlich auf die Familie eingewirkt hatte. Druck wegzunehmen ist schon ein erster Schritt auf dem Wege zum Erfolg. Legasthenie kann in den Familien oft ein sehr dominantes und den Alltag bestimmendes und beeinflussendes Thema sein. Andere wichtige gemeinsame Aktivitäten treten in den Hintergrund, obwohl sie so wichtig für die psychische Stabilität des Kindes und der Beteiligten wären.
Meiner Erfahrung nach lehnen es die Kinder ab, ihr Problem zu einem Familienproblem umfunktionieren zu lassen. Sie sind in der Regel stark genug, damit allein umzugehen; sie selbst bringen ungleich mehr Geduld mit sich selbst auf als ihre Umgebung. So ist es ein interessantes Phänomen, dass nahezu alle Kinder es ablehnen, wenn ihre Eltern etwas von mir über die Therapieinhalte erfahren möchten. Für mich ist dies ein deutliches Zeichen, dass die Kinder ihren eigenen Weg von Lernerfahrungen beschreiten wollen.
Eltern brauchen oft eine lange Zeit, bevor sie begreifen, dass Schimpfen und Verbitterung nichts nützen und dass die einzige Unterstützung, die sie ihrem Kind anbieten können, Verständnis und Ermutigung sein kann. Immer wieder stelle ich fest, dass Kinder, die von allen Beteiligten intensiv begleitet werden, eine überraschend ehrgeizige Haltung, entwickeln, weil sie zum ersten Mal die Chance haben, ihre Lernstörung als ihre eigene ganz persönliche Herausforderung zu betrachten und anzugehen.
Was wird hier aus therapeutischpädagogischer Sicht notwendig? Informationen zum Störungsbild können Angst- und Unfähigkeitsgefühle von Lehrern, Eltern, Therapeuten und Kindern erheblich mindern. Biografien von Legasthenikern, die ihr Leben erfolgreich und kreativ gestaltet haben, wirken hilfreich und ermutigend. Lehrer sollten dies den Eltern vermitteln. Wichtig ist es zu wissen, an wen sich die Eltern wenden können.
Man sollte Verständnis für die Störung zeigen, anstatt überhöhten Anforderungsdruck aufzubauen. Das Kind muss immer wieder auf seinen Mut und sein Lernfähigkeit hingewiesen werden.
Sie sollten neue Bewertungsschemata einführen: Ich arbeite mit Richtigkeitskoeffizienten, d. h. alle Wörter eines Diktats werden zusammengezählt und mit den "Richtiggeschriebenen" ins Verhältnis gesetzt. Dies kann bei der Zensur mit berücksichtigt werden. Das Beste wäre es natürlich, bei einer festgestellten Legasthenie gar keine Rechtschreib- und Lesenoten zu vergeben.
Der Tipp: "Hör genau hin" darf nur verwendet werden, wenn es sich um ein Wort handelt, das lautsprachlich verschriftet werden kann. Er versagt bei näherer Betrachtung vollkommen, wenn es um rein orthografisch begründete Rechtschreibung geht. Hier sollte gefragt werden: "Wo hast du das Wort schon mal gesehen?" oder "Schreib es auf so viele Arten hin, wie du dir vorstellen kannst. Und jetzt schau, welche dir am wahrscheinlichsten vorkommt." Bei morphematisch begründeter Rechtschreibung könnte man fragen: "Denk nach, woher das Wort kommt?" Hier handelt es sich um eine metasprachliche Strategie, welche überraschend viele LRS-Kinder gut einsetzen können.
Anerkennungsstrategien sind anzustreben. Selbstkorrektur- und Kontrollmechanismen müssen systematisch trainiert werden. Zunächst sollte dies am besten durch Spiele geschehen, die nicht unbedingt Lesen oder Schreiben zum Inhalt haben.
Eine Untersuchung von Istomia (1975) belegt, dass Kinder im Vorschulalter spontan Gedächtnisstrategien einsetzen, wenn die Gedächtnisaufgabe in einen für sie sinnvollen Zusammenhang gebettet ist. Für Kinder besteht ein großer Unterschied, ob sie sich z. B. einige Wörter in einer bestimmten Reihenfolge zu merken haben, oder ob die Herausforderung darin besteht, sich für das Kaufmannsladenspiel eine Liste für das Einkaufen zu merken. Sie nutzen sowohl die Strategie des Wiederholens sowie der permanenten Selbstkontrolle. Bei dem o. g. Forschungsprojekt wurde ein Zuwachs in der Gedächtnisleistung von 100% erreicht.
Hier setzte meine Idee für die Legasthenie-Therapie mit Kindern ein. Mein erstes Ziel war es, die Frustrationsgefühle in Bezug auf das Schreiben und Lesen abzubauen.
Statt Frustration wollte ich Motivation und damit Sinnhaftigkeit durch das Spiel wachrufen. So habe ich versucht, Lerninhalte in Spielform zu bringen. Die Kinder nahmen dieses Angebot begeistert auf, zumal sie sich die Leistungskontrollen ersparten. Klare Regeln sorgten für eine herbeigesehnte und hilfreiche Strukturierung des Spielgeschehens. Die Therapiesituation ermöglichte während eines definierten Zeitraums Ruhe. Das Kind durfte sich sein Ziel selbst setzen und so lange wie es Freude daran hatte, bei seiner Aktivität bleiben. So erlaube ich den Kindern, sich ihr Spiel im Computer selbst auszusuchen, wenn sie mit dem Programm vertraut sind und sie dürfen das Spiel abbrechen, wann sie wollen.
Obwohl die Programme recht anstrengend sind, hat das Spiel hier die Funktion der Erholung, Entlastung und des Sammelns neuer Kräfte. Kinder können bekanntlich sehr ausdauernd bei einer Aktivität verweilen, sofern sie in sich selbst motivierend ist. Dieses sollten Lehrer und Therapeuten unbedingt nutzen.
Doch was charakterisiert ein Spiel?
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