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aus: "Sportliches Handeln", Kursbuch für die Sporttheorie in der Schule, Hrsg. Röthig,Größling, Limpert Verlag, 1982, S. 11ff

Da der Sport ein so vielfältiges Erscheinungsbild besitzt und seine Popularität größer ist als die vieler anderer gesellschaftlicher Ereignisse (Theater, Konzert u. ä.), kann er nur von mehreren Wissenschaften zugleich, d. h. interdisziplinär, erfasst werden. Die Sportsoziologie muss daher als Integrationswissenschaft (interdisziplinäre Forschung) verstanden werden.

In der Soziologie, der Sportwissenschaft oder auch in der Sportsoziologie wurden immer wieder neue wissenschaftliche Theorien entwickelt, um die Bedeutung des Sports für den Menschen möglichst genau erfassen zu können. Die einzelnen Ansätze wurden jeweils heftig diskutiert: So wird z. B. behauptet, dass bei der rein verhaltenswissenschaftlichen Betrachtungsweise (Behaviorismus) sportlicher Tätigkeiten, wo man sich nur auf die Beobachtung und Analyse äußerer Verhaltensweisen (sportspezifische Bewegungen und Reaktionen) beschränkt, nicht erforscht wird, welche Ziele (Intentionen) der Sporttreibende verfolgt oder warum er überhaupt Sport treibt (Motive).

Daher wird als diejenige Wissenschaft, die den sporttreibenden Menschen möglichst umfassend und einheitlich zu erklären und zu interpretieren in der Lage ist, z.Zt. besonders die Handlungswissenschaft angesehen.

Was ist sportliches Handeln?

Wer die heftige Diskussion in der Fachliteratur verfolgt, weiß, wie sehr die Ansichten über Sport auseinandergehen. Besonders die Deutung des Sports bezüglich seiner Funktion für den Menschen oder die Gesellschaft wurde aus äußerst unterschiedlichen Blickwinkeln gesehen.
Sport ist bei den einen »Abbild der industriellen Arbeitswelt« (z. B. bei PLESSNER 1956); er ist also ähnlich strukturiert wie die Arbeitswelt des Menschen.

Eine andere Gruppe von Autoren sieht stattdessen im Sport eine eigene Welt, die als Gegengewicht zur Arbeit gesehen wird, z. B. werden Spiel (HUJZINGA 1938) oder Wettkampf (ORTEGA Y GASSET 1930) als Wurzeln aller Kultur, alles Schöpferischen oder sogar des Staates bezeichnet. Bei dieser Sichtweise werden sportliche Handlungen oft positiv übersteigert angesehen, gegenüber den alltäglichen Arbeitshandlungen des Menschen.

Eine dritte Art der Deutung sportlichen Handelns erkennt zwar auch die Eigenwelt des Sports als solche an, sieht ihn jedoch nicht als positiv übersteigerten Gegenpol zur Arbeitswelt, sondern schreibt ihm eine besondere Wirkung auf das tägliche Leben des Menschen zu: Sport wird z. B. als gute Möglichkeit menschlicher Existenzerfahrung angesehen, d. h. der Mensch kann sich selbst, seine Möglichkeiten und Grenzen, im Sport erfahren.

Wodurch unterscheidet sich nun das sportliche Handeln vom alltäglichen Handeln? Die Besonderheit und Eigenständigkeit sportlicher Handlungen wird in der Fachliteratur vielfach herausgearbeitet. Hans LENK hat 1972 eine deutliche Unterscheidung getroffen:

  1. Sportliche Bewegungen und Handlungen sind »durch besondere kulturelle Traditionen und geschichtliche Besonderheiten als solche ... bezeichnet und institutionalisiert in einem eigenen sozialen Rahmen ... «

  2. Sie sind außerdem »bewusst schematisiert, standardisiert, zielspezialisiert, ablaufkontrolliert gleichsam abstrakt konventionalisiert« (LENK 1972,139).
Sportliches Handeln besitzt also gegenüber der Alltagswelt eine gewisse Eigenständigkeit, die aber weder als »idealisiertes Abbild der Arbeitswelt« noch als »Gegenwelt zur Arbeit« verstanden werden darf. Trotz dieser Eigenständigkeit können sportliche Handlungen dennoch nicht ohne Bezug zu alltagsweltlichen Bereichen gesehen werden. Die Unabhängigkeit von Alltagshandlungen ist deshalb als »scheinbar« zu bezeichnen.

Geht man davon aus, dass sportliches Handeln stets zielgerichtet oder zweckbestimmt (intentional) ist, so muss zunächst deutlich gemacht werden, dass diese Zielgerichtetheit (Intentionalität) sportlichen Handelns nicht einfach ein spezifisches Merkmal einer bestimmten Verhaltensweise ist, sondern das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, der mit Hilfe von »Theorien« (Vorstellungen, Wissen, Begriffen über Sport) und der Sprache des Menschen entsteht.

Diese »Theorien« können nach WITTGENSTEIN beim kleinen Kind auch non-verbal gebildet (konstruiert) werden. Sie dokumentieren die Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt, aber auch in ihrer Zusammenfassung das Alltagswissen einer bestimmten gesellschaftlichen Epoche (n. WITTGENSTEIN 1969).

Für einen Beobachter wird der Handlungsvollzug im Sport nur dann erkennbar, wenn der Beobachter selbst auch eine »Theorie« (Vorstellung, Wissen usw. von Sport) besitzt, anhand derer er - wiederum mit Hilfe von Sprache - das sportliche Handeln des Akteurs interpretiert. Die »Theorien« des Akteurs und des Beobachters müssen sich nicht zwangsläufig decken oder überschneiden. Der Beobachter könnte das sportliche Handeln des Akteurs auch ganz anders interpretieren, die beiden besitzen dann eine völlig unterschiedliche Vorstellung von sportlichem Handeln.

Um das sowohl institutionalisierte als auch organisierte sportliche Handeln in unserer Gesellschaft noch differenzierter darzustellen, soll auf zwei weitere Erscheinungen sportlichen Handelns aufmerksam gemacht werden:

Handeln im Sport kann sich auf zweierlei Weise darstellen: formell und informell. Bei strikt ausgeübter, ziel- und zweckgerichteter Organisation erscheint sportliches Handeln formell (formal). Daneben gibt es aber auch das informelle sportliche Handeln, das dann zustande kommt, wenn nicht Regelungen, Ziel und Zweckbestimmungen vorherrschen, sondern Spontaneität und Improvisation.

Eine weitere Differenzierung sollte bezüglich der zwei verschiedenen Arten der Regelung sportlichen Handelns getroffen werden: sportliches Handeln kann sowohl explizit als auch implizit geregelt sein, d. h. es gibt Regeln, die deutlich erklärt werden müssen, und Regeln, die als so selbstverständlich angesehen werden, dass auf ihre Darstellung verzichtet werden kann.

Um zu vermeiden, dass Sportler ihre Meinungsverschiedenheiten ständig in »handfester« Weise austragen, gibt es explizite Regeln oder Spielregeln, an die sich jeder Sportler halten muss, wenn er nicht Sanktionen (Platzverweis, Sperrungen u. ä.) ausgesetzt sein will. Daneben wird sportliches Handeln aber auch von impliziten Regeln bestimmt, an die sich sowieso jeder Sportler halten muss, d. h. deren Einhaltung ihm selbstverständlich sein soll.

Sowohl explizite als auch implizite Regelungen sportlichen Handelns werden aus dem jeweils herrschenden Normverständnis und der Wertverbindlichkeit eines Sozialsystems bestimmt. Die, je nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit unterschiedenen, Kann-, Soll- oder Mussnormen werden von den Menschen eines gesellschaftlichen Systems als »einheitsstiftend« angesehen und deshalb als Ziele (Verhaltensmuster, Anforderungen) gesetzt und anerkannt.

Auch die Werte bestimmen in einem Sozialsystem das Handeln der Menschen. Im Gegensatz zu den Normen stellen die Werte jedoch keine Anforderungen von Seiten des Sozialsystems an seine Mitglieder dar. Werte sind vielmehr Einstellungen (Positionen), welche die Mitglieder selbst gegenüber bestimmten Personen, Sachen oder Handlungen einnehmen.


Funktionen des Sports

Auf der Suche nach einer Antwort auf die Fragen, was den Menschen unserer Tage am Sport so fasziniert, warum er ihm eine so hohe Bedeutung beimisst, stößt man immer wieder auf die Darstellung der Funktionen des Sports. Sporttreiben wird uns als gesundheitsfördernd, einen Ausgleich zur Arbeit schaffend oder völkerverbindend angepriesen. Doch dieser Sport hat, wie er sich uns heute darstellt, auch seine negativen Seiten (Disfunktionen): Die folgenden Bildpaare stellen an drei Beispielen jeweils Funktion und Disfunktion des Sports dar.

In der »Charta des Deutschen Sports«, die der »Deutsche Sportbund« (DSB) 1966 herausgegeben hat, heißt es:
»Der Sport erfüllt in der modernen Gesellschaft wichtige biologische, pädagogische und soziale Funktionen ...
Sport und Leibeserziehung

  • fördern die Gesundheit des einzelnen und stärken die vitale Kraft des Volkes,

  • tragen zur Entfaltung der Persönlichkeit bei und sind nicht austauschbare Faktoren der Bildung,

  • bieten durch vielfältige Übungs- und Gesellungsformen wirksame Hilfen für das Zusammenleben in der Gesellschaft,

  • ermöglichen eine sinn- und freudvolle Erfüllung der neu gewonnenen Freizeit« (DSB 1978,63).

In der Begründung der biologischen oder gesundheitlichen Funktion des Sports zeigt sich ein Beispiel für den strukturell-funktionalen Denkansatz. Hier wird argumentiert, dass durch Sport strukturelle Probleme unserer Gesellschaft - in diesem Fall das ganze Problemfeld der sog. »Bewegungsmangelkrankheiten«, d. h. der körperlichen Unterbeanspruchung der Menschen - gelöst werden kann. Dem Sport kommt hierbei eine wesentliche Funktion zu: 1975 durchgeführte Untersuchungen an 13794 Schulanfängern der Gesundheitsämter München und Regensburg haben ergeben, dass
  • 58 % der Schulanfänger Mängel am Knochen- und Muskelsystem aufweisen (z. B. Wirbelsäulenschwäche, Wirbelsäulendeformierungen, Muskelschwäche und sonstige Haltungs- und Fußschäden) und

  • 10 % der Schulanfänger Organleistungsschwächen (Beeinträchtigungen des Atmungs- und Kreislaufsystems) aufweisen. (WUTZ 1977, 1)

Mit der biologischen, pädagogischen und sozialen Funktion (vgl. »Charta des DSB«) werden dem Sport also spezifische Wirkungsweisen in unserer Gesellschaft »zugewiesen, obwohl nicht immer sicher ist, ob der Sport diese Funktionen erfüllen kann oder ob nicht in dieser Funktionszuweisung eine Rechtfertigung für den Sport liegt« (HEINEMANN 1978, 81).
Die Frage kann an dieser Stelle weder näher betrachtet noch gelöst werden; sie soll aber, ähnlich wie die Darstellung von Funktion und Disfunktion des Sports, kritisches Bewusstsein auslösen.

Weitere gegensätzliche Funktionen des Sports - zusammenfassend, in Stichworten thesenartig dargestellt - sind:

Art der Funktion Funktion des Sports Disfunktion des Sports
biologisch Zivilisationsschäden wie Bewegungsmangelkrankheiten werden durch Sport ausgeglichen. Die Zahl der Sportunfälle, auch der irreperablen Spät- oder Folgeschäden, steigt von Jahr zu Jahr.
politisch Der Sport leistet einen wesentlichen Beitrag zur allgemeinen politischen Entspannung er wirkt völkerverbindend, überwindet politische Grenzen und hilft Vorurteile abzubauen. Anlässlich der Olympischen Spiele oder anderer Internationaler Wettkämpfe entstehen immer wieder die schärfsten politischen Auseinandersetzungen, zum Beispiel um die Teilnahme oder den Teilnahmemodus.
sozial Generell kann dem Sport keine soziale oder sozialisierende Funktion zugeschrieben werden; für einzelne Personen jedoch kann er durchaus eine solche Funktion besitzen, zum Beispiel bei der Leistungsorientierung. Beim sportlichen Handeln werden viele, zum Teil bisher unterdrückte, Aggressionen wach. Aggression wird hier als ein Verhalten verstanden, das auf Schädigung von anderen ausgerichtet ist.
pädagogisch Sportliches Handeln ist ein Entwicklungsfeld für soziale und musische Persönlichkeitsentfaltung. Der sich selbst entfremdete Mensch findet im Sport seine Identität, sein Selbstwertgefühl. Allzu frühe sportliche Erfolge verderben bei Kindern und Jugendlichen den Charakter, machen sie ruhelos und unersättlich und beanspruchen sie weit über ihre seelisch-geistigen Kräfte hinaus. Die Selbstmordrate von Leistungssportlern ist im Ansteigen begriffen.
wirtschaftlich Jahr um Jahr geben die Bundesbürger mehr Geld aus für die Sportausrüstung; damit verhelfen sie der Sportartikelindustrie zu einem wahren »Boom«. Überall, wo Sportler in der Öffentlichkeit auftreten, dort gibt es auch die Werbung. In kaum einer Sportsendung im Fernsehen wird nicht irgendwann für irgendwen oder irgendwas geworben.
ästhetisch In seiner gestalterischen Ausformung (Gymnastik, Tanz, Turnen, Eislauf usw.) besitzt der Sport einen ästhetischen Wert. Beim sportlichen Handeln gibt es für den Zuschauer auch viel Unästhetisches zu sehen: schwitzende Körper, verzerrte Gesichter, stürzende Pferde, sich vor Erschöpfung krümmende Läufer usw.

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