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[ Habermas Überblick ]
 

Jürgen Habermas – Theoretiker der Moderne

Ein Rückblick aus Anlass seiner Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit an der Carl von Ossietzky Universität

von Stefan Müller-Doohm

I. Lehrermangel an der Frankfurter Schule ...

das war die Situation, die wir Studierende am Frankfurter Institut für Sozialforschung Mitte der 60er Jahre vorfanden. Max Horkheimer hatte sich nach seiner Emeritierung Ende 1959 nach Montagnola in die Schweiz zurückgezogen und führte nur noch sporadisch Seminare an der Johann Wolfgang Goethe Universität durch. Einzig Theodor W. Adorno repräsentierte die Kritische Theorie in Lehre und Forschung, seine Vorlesungen waren eben deshalb kaum weniger Massenveranstaltungen, wie seine philosophischen und soziologischen Seminare, trotz – oder wegen – ihrer Aura der Exklusivität.

Erst als Jürgen Habermas, der schon während seines Marburger Habilitationsverfahrens begonnen hatte, in Heidelberg Sozialphilosophie zu lehren, 1964 als Nachfolger Horkheimers Professor für Philosophie und Soziologie wurde – seine ersten Bücher wie Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) und Theorie und Praxis (1963) waren bereits Gegenstand intensiver Debatten zwischen den jungen Soziologie- und Philosophiestudenten meiner Generation – änderte sich die Situation. Und zwar auf Anhieb zum Positiven, wobei es eine Rolle gespielt haben dürfte, dass Habermas mit den komplizierten Verhältnissen an der Frankfurter Universität vertraut war. Denn nach seiner Promotion über den spekulativen Naturphilosophen Schelling war der Sechsundzwanzigjährige bereits vier Jahre Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung gewesen. Dort hatte er sich an der von Ludwig von Friedeburg und anderen durchgeführten empirischen Studie über Student und Politik beteiligt, eine bildungssoziologische und bildungspolitische Thematik, die ihn fortan beschäftigt hat, – ebenso wie zum einen die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen demokratischer Öffentlichkeit und zum anderen die Frage, wie sich Gesellschaftskritik erkenntnistheoretisch begründen läßt. Seine eigene Position zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und Dialektik hat Habermas im sogenannten Positivismusstreit zu klären versucht, auf die er sich nach fast vierzig Jahren nur noch der Motive wegen berufen mag. Immerhin kann hier an erster Stelle die Überlegung zur emanzipatorischen Bedeutung der Selbstreflexion genannt werden, die gerade als wechselseitige Bezugnahme der Einzelwissenschaften heute notwendiger ist denn je. Ebenso gültig ist die Einsicht geblieben, dass alle Sozialtheorien einen Wertbezug haben und moralische Urteile beinhalten, die als Erkenntnisinteressen transparent gemacht werden können und müssen.

Nach seiner Frankfurter Antrittsvorlesung mit dem wegweisenden Titel Erkenntnis und Interesse (1968) hatten wir Studierende den Eindruck, ein ganz neuer und belebender Windzug ging nicht zuletzt auch durch die Räumlichkeiten des Instituts für Sozialforschung. Mit der veränderten Thematik der Seminare des jungen Ordinarius, der dort vorherrschenden Intensität der herrschaftsfreien Diskurse erweiterte sich auffällig der Kreis jener obligatorischen Literatur internationaler und zeitgenössischer Philosophie und Soziologie, die zu lesen war. Die Bereitschaft dazu war groß, bestand doch das programmatische Ziel darin, eine Theorie der Gesellschaft in praktischer Absicht zu entwickeln. Die rückhaltlose Offenheit im Bezug auf die intellektuelle Herausforderung des Weiterdenkens, für das nicht umsonst das theoretisch ausgearbeitete Konzept der kommunikativen Kompetenz stand, kündete in diesen späten 60er Jahren von dem, was wenig später als linguistic-turn von sich reden gemacht hat – und dies weit über die Metropole am Main hinaus. Denn inzwischen war Habermas zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker Direktor des neugegründeten Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg geworden. Als er 1982 erneut auf eine Professur nach Frankfurt a.M. zurückkehrte, stand sein gerade erschienenes Hauptwerk im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.

II. Maßstab der Kritik

Die vielfältigen Aufsätze und Buchpublikationen von Jürgen Habermas seit den legendären Christian-Gauss-Lectures, die er im Frühjahr 1971 an der Princeton University gehalten hat, stehen im Zeichen der sogenannten sprachtheoretischen Wende der Kritischen Theorie: Sprache ist der Ort der Vernunft und damit zugleich die allgemeine Bedingung für Mündigkeit. Während Adorno und Horkheimer nach der historischen Erfahrung eines Rückfalls in die Barbarei für ihre Gesellschaftskritik auf das methodische Prinzip der bestimmten Negation vertrauen, lässt sich Habermas auf das Wagnis ein, ein gänzlich neues Fundament für dieses Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie zu schaffen. Diese Grundlagenarbeit beginnt er, Stein auf Stein setzend damit, dass er sich Rechenschaft über die in Anspruch genommenen Maßstäbe der Kritik von Gesellschaft gibt. Er gewinnt dieses Vernunftkriterium, indem er durch die Auseinandersetzung mit hermeneutischer und analytischer Philosophie beispielsweise von Humboldt und Wittgenstein, sodann mit dem Pragmatismus Meads einen zentralen Gedanken systematisch verfolgt: Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne. Mit anderen Worten: Basis des sozialen Lebens ist die symbolisch vermittelte Verständigung zwischen den Subjekten. Und wenn Menschen sich sprachlich miteinander verständigen, kommen – ob sie es wollen oder nicht – Ansprüche (Geltungsgründe) zum Tragen, die grundsätzlich der Überprüfung zugänglich sind, folglich prinzipiell kritisiert werden können.

Solange im Prozess des Miteinanderredens Gründe und Gegengründe aufeinanderstoßen, darf erwartet werden, dass sich am Ende der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetzt. Diese Erkenntnis, in seiner Sprechakttheorie (Universalpragmatik) im einzelnen begründet, ist gleichsam der Leitfaden der zweibändigen Theorie des kommunikativen Handelns, die er erstmals 1981 vorgelegt hat und heute schon den Status eines sozialwissenschaftlichen Klassikers hat. Dessen Bedeutung besteht darin, dass sein Autor hier die bislang in der europäischen Bewusstseinsphilosophie dominierende Perspektive der Zwecktätigkeit eines monadisch vorgestellten Handlungssubjekts aufgibt. Ihr stellt er eine Perspektive auf die fundamentale Bedeutung des Anderen und die Verständigung in der Alltagspraxis mit ihm an die Seite. So grenzt Habermas die Rationalitätsform der Verständigungsorientierung von der der Instrumentalität ab und weist folgendes nach: bei der Wechselseitigkeit unserer sozialen Beziehungen nehmen wir, über die Verfolgung spezifischer Ziele hinaus, ein Einverständnis in Anspruch, das auf die normative Grundlage der Gesellschaft Bezug nimmt und diese bestätigt oder problematisiert. Dieser Gedanke führt zur Entzauberung der Vernunft. Sie ist aus der Sicht von Habermas schlicht eine Fähigkeit sich aufeinander beziehender Individuen, die sie in den interpersonalen Prozessen der Handlungskoordinierung erwerben und als indirekte Unterstellung, sich wahr zu äußern, richtig zu verhalten und wahrhaftig darzustellen, zum Tragen bringen müssen. Vernunft, die in Argumentationen grundsätzlich infrage gestellt werden kann, ist Bestandteil der kommunikativen Alltagspraxis und bildet sich durch die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche.

III. Zeitdiagnose

Diese Prämisse schlägt die Brücke zum Herzstück der Zeitdiagnose von Habermas: Die Sozialpathologien der Moderne treten immer dann in Erscheinung, wenn die Alltagspraxis der sprachlich vermittelten Verständigungsprozesse durch die systemischen Mechanismen der technischen Rationalität überformt wird. Wenn die für Ökonomie und Staat funktionalen Steuerungsinstrumente auf diejenigen Bereiche übertragen werden, die sich durch die fragilen Netzwerke verständigungsorientierter Praktiken erhalten müssen, dann werden die wichtigsten sinnhaften Voraussetzungen des sozialen Lebenszusammenhangs zerstört: Es misslingt die Erzeugung von kulturellen Überlieferungen, es bleibt die Anerkennung sozialintegrativer Werte aus und die Bildung von Identitäten wird erschwert. Die kulturelle Verarmung und Fragmentierung des Alltagsbewusstseins sind notwendige Folgen.

In der Theorie des kommuniktiven Handelns deckt Habermas auf, dass die Gesellschaften der Moderne komplexe Gebilde sind, deren Entwicklungsdynamik ihre Selbstgefährdung einschließt. Denn sie bestehen als gegensätzliche Einheiten von System und Lebenswelt. Dies sind die beiden fundamentalen Kategorien seines Gesellschaftskonzepts, die einerseits die institutionell organisierten Funktionsbereiche von Wirtschaft und Staat und andererseits die gemeinschaftliche Sphäre intuitiver Gewissheiten erfassen. System und Lebenswelt stehen nicht nur insofern miteinander in Verbindung, als sie das strukturelle Ganze der Gesellschaft bilden. Vielmehr müssen sie jeweils auf ihre Weise dazu beitragen, daß jene kulturellen Prozesse lebendig bleiben, auf deren Grundlage sich die Individuen wechselseitig anerkennen und so als selbstverantwortliche Personen bilden können. Mit Blick auf die Eigengesetzlichkeit dieser beiden Sphären ist Gesellschaftskritik Kritik an einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die abstrakten Funktionsmechanismen des Systems. Sie manifestieren sich in den destruktiven Konsequenzen, die empirisch beobachtbar sind, wenn versucht wird, die kulturelle Praxis durch Geldbeziehungen zu ersetzen, die Lebensverhältnisse durch administrative Zwänge zu regulieren, Wertorientierung durch Massenmedien zu indoktrinieren.

IV. Dezentrierung: Einsicht in Differenzen

Nicht nur auf diese Gefahrenpotentiale der Kommerzialisierung und Verrechtlichung macht die Gesellschaftstheorie von Habermas aufmerksam. Darüber hinaus öffnet sie uns Zeitgenossen der Moderne die Augen für folgendes: Es sind grundsätzlich Unterschiede zwischen der objektiven, sozialen und subjektiven Realität zu machen. Dem entspricht die Differenzierung zwischen den Erfahrungsbereichen der Wahrheit, der Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit, die jeweils einer kognitiv-instrumentellen, moralisch-praktischen, ästhetisch-expressiven Eigengesetzlichkeit gehorchen. Folglich müssen wir akzeptieren, dass Wissenschaft, Moral und Kunst jeweils eigenständige Wertsphären darstellen. Dies als irreversibel anzuerkennen, ist Signatur des nachmetaphysischen Bewusstseinszustands der Moderne. In ihr, so heißt es in einer Rede von Habermas aus Anlass der Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt, gibt es keine Alternative dazu, die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln. Aber gleichzeitig muss es gelingen, die sich innerhalb von Expertenkulturen ansammelnden Erkenntnisse für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nutzen. Habermas selbst hat gerade dazu in imponierender Weise beigetragen. Zum einen durch die öffentlichen Kontroversen, die er entfacht und beharrlich geführt hat, angefangen vom Positivismus- bis zum Historikerstreit. Zum anderen durch sein publizistisches Engagement. Indem er den akademischen Elfenbeinturm verließ, war es möglich, die Philosophie und Soziologie für Gegenwartsdiagnosen fruchtbar zu machen. Die Titel seiner Aufsatzsammlungen in der edition suhrkamp, wie Protestbewegung und Hochschulreform (1969), Die neue Unübersichtlichkeit (1985), Die nachholende Revolution (1990), Die Normalität einer Berliner Republik (1995) repräsentieren eine politisch-soziologisch orientierte Zeitgeschichtsschreibung. Sie hat als eine Art Frühwarnsystem im Hinblick auf die immer wieder akuten Gefahren eines Rückfalls hinter die Errungenschaften von demokratischer Verfassung und Zivilgesellschaft gewirkt. Als einer der wenigen öffentlichen Intellektuellen, dessen Herz nicht aufgehört hat, links zu schlagen, hat er zu keiner Zeit davon abgelassen, streitend Stellung zu beziehen, etwa gegen die Normalisierung des Holocaust, gegen deutsches Sonderbewusstsein und DM-Nationalismus. Diese Gegenpositionen sind verantwortungs-ethischer Ausdruck einer radikal demokratischen Gesinnung, die im anspruchsvollen Konzept einer deliberativen Demokratie verankert ist. Ausgearbeitet ist es rechtstheoretisch in den beiden letzten großen Büchern von Habermas, in Faktizität und Geltung (1992) sowie in Die Einbeziehung des Anderen (1996). Keine geringeren als die Fragen, wie durch Recht Gerechtigkeit hergestellt, in welchem Verhältnis Rechtsnormen zu moralischen Geboten und diese zur Ethik stehen, sind Gegenstände dieser umfassenden Studien. Mit ihnen ist es dem Autor gelungen, eine Synthese zwischen Gesellschaftstheorie, Rechts- und Demokratietheorie herzustellen. Der Weg weist zwar nicht gradlinig zur Bestimmung des allgemein Guten, aber zu dem, was unter den gegebenen Umständen moralisch vertretbar ist, zum Gerechten: ein steiniger Weg, der über den mühsamen Anstieg der Konsensfindung in der Folge prozeduraler Argumentationsprozesse führt.

Vernünftig ist eine Gesellschaft dann und nur dann, wenn sie ihre unaufhebbaren Konflikte nicht strategisch, sondern argumentativ in praktischen Diskursen löst. Das setzt erstens die Verankerung des Diskursprinzips in der rechtsstaatlichen Verfassung als Demokratieprinzip sowie zweitens die Gewährleistung von Formen politischer Öffentlichkeit voraus, in der die Produktivkraft Kommunikation ungehindert zur Wirkung kommen kann: als Motor kollektiver Lernprozesse, die den Gesellschaften und ihren Mitgliedern ein immer besseres Bild von sich selbst vermitteln.

Angesichts dieses hohen Anspruchs wundert es nicht, dass Habermas, der sich auf die Idee unversehrter Intersubjektivität beruft, zur Skepsis gegenüber jedweder Sonderstellung der Wissenschaften neigt, einschließlich der Philosophie und Soziologie, die aus eigenen Kräften die Welt nicht verändern können. "Was wir brauchen, ist ein kleines Mehr an solidarischen Praktiken; ohne das bleibt auch das intelligente Handeln bodenlos und ohne Folgen. Solche Praktiken brauchen allerdings ihrerseits vernünftige Institutionen, brauchen Regeln und Kommunikationsformen, die die Staatsbürger moralisch nicht überfordern, sondern die Tugend der Gemeinwohlorientierung nur in kleiner Münze erheben."

Quelle: http://www.radiobremen.de/rb2/specials/habermas/doohm.htm
 

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