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Mach dich stark für starke Kinder
Übersicht
Vielfältige Ursachen
Kunst: andere Formen des Lernens
Gesamtkunstwerk Mensch
Kindern etwas zutrauen
Der eigene Weg zum Erwachsensein
Ein Appell an die Erwachsenen
Junge Menschen befähigen
Es geht um Bildung
Quellen
Ausgehend vom Hilferuf der Rütli-Schule in Berlin wird eingehend erläutert, wie Integration, Gewaltvorbeugung und wirkliche Förderung individueller Fähigkeiten nur durch ein ganzheitliches Menschenbild, das Grundlage einer umfassenden Bildung  ist, möglich sind. Der Mensch als Gesamtkunstwerk steht im Mittelpunkt dieses Menschenbildes.

Thomas Broch

Mach dich stark für starke Kinder

Die Caritas will mit der Befähigung junger Menschen einen Dienst an ihrer Menschenwürde leisten.

Der Name der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln ist zu einem Symbol geworden. Hilflose und überforderte Lehrer dieser Schule, in der die Kinder und Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund einen Anteil von 80 Prozent ausmachen, hatten im Frühjahr 2006 einen öffentlichen Hilferuf an den zuständigen Senator gerichtet, weil die Respektlosigkeit, der Motivationsmangel, die Gewaltbereitschaft ihrer Schülerinnen und Schüler ein Ausmaß erreicht hatte, dem sie sich nicht mehr gewachsen sahen.

Weit über den konkreten Anlass und über die Grenzen Berlins hinaus weist dieses Alarmsignal aber auf ein erschreckendes Phänomen unserer Gesellschaft hin.

Man nimmt es nicht wahr, wenn man darin nur ein Symptom misslungener Ausländerintegration sieht und dieser mit polizeilichen oder ausländerrechtlichen Maßnahmen zu begegnen versucht. Gewiss: die jungen Araber und Türken im Neukölln sind die verlorenen Kinder einer verlorenen Elterngeneration - heimatlos und entwurzelt bei uns. Aber das Problem reicht viel weiter. Eine große Zahl dieser Kinder und Jugendlichen kommt aus Milieus an den sozialen Rändern - und dies betrifft Einheimische ebenso wie Familien mit Migrationshintergrund -, die ihre Möglichkeiten von Anfang an minimieren. Sie sehen einer Zukunft in einer Gesellschaft entgegen, die ihnen kaum Chancen bereit hält, die sie oft nur als lästige Probleme und nicht als Zukunftspotenzial sieht, in das zu investieren sich lohnt, und die sie bisweilen am liebsten los wäre.

Vielfältige Ursachen

Es wäre zu einfach, die Probleme an den Schulen, an den Hauptschulen zumal, auf einige wenige Ursachen zu reduzieren. Aber - ohne hier eine zwingende Kausalität behaupten zu wollen - es kann nicht ohne Folgen bleiben, wenn eine erschreckend hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren mit ihren Familien auf Sozialhilfeniveau lebt - ob die Zahl nach Angaben des Kinderschutzbundes bei 2,2 Millionen oder nach anderen Berechnungen "nur" bei 1,7 Millionen liegt, ändert wenig an der Dramatik. 15 Prozent eines Jahrgangs haben keinen Ausbildungsabschluss (bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt der Anteil bei 33 Prozent), neun Prozent (19 Prozent) gehen gar ohne Abschluss von der Schule; und über 15 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren sind arbeitslos - dies sind weitere Alarmsignale.1

Eine langjährige einseitige Orientierung der Schul- und Bildungspolitik an der Begabtenförderung mag dabei mitspielen, auch strukturelle Probleme wie zu geringe Lehrerzahlen und zu starke Klassengrößen. Die PISA-Studien haben deutlich gemacht, dass das Schulsystem in Deutschland gerade für Kinder und Jugendliche nicht integrierend, sondern desintegrierend wirkt - für junge Menschen aus Migrantenfamilien zumal. Sicher muss man - in jedem einzelnen Fall - auch persönliche und familiäre Belastungen der jungen Menschen sehen. Und man tut ihnen Unrecht, sie pauschal zu inkriminieren. Mit Recht wehren sie sich dagegen. Und der Voyerismus mancher Medien trägt auch nicht zu einer Lösung der Probleme bei.2

Kunst: andere Formen des Lernens

Aufmerksamkeit verdient dagegen der Weg, den die Rütli-Schule und andere Schulen in Deutschland gegangen sind. Eine Woche lang hat die Phono-Akademie mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung mit ihrem Projekt School-Tour nach "einem popkulturellen Stundenplan" gearbeitet.

Binnen einer Woche sollten die jungen Leute eine komplette Musikproduktion auf die Beine stellen - das bedeutet: Singtexte schreiben, eine Breakdance-Choreographie ersinnen, CDs aufnehmen, die Produktion planen oder eine Gala zum Abschluss vorbereiten.3
Ähnliches wird aus Südbaden von dem Theaterprojekt "Nur Mut" 4 oder von der Projektwerkstatt "Kubus3" 5 berichtet. Die Beispiele, zufällig ausgewählt, machen gemeinsam eines deutlich: Dass auch bei "kaum beschulbaren Jugendlichen" ein ganzheitliches Lernen über die Begegnung mit der Kunst, das alle Sinne anspricht, in erstaunlicher Weise "Kreativität und Talent" fördern kann, "das in jedem steckt". Und dass "Zutrauen stärkt" und kaum geahnte Veränderungen hervorbringen kann.6

Gesamtkunstwerk Mensch

Lernen über Kunst. Diese Initiativen werden - neben vielen anderen - hier nicht nur wegen ihres kreativen Ansatzes erwähnt, sondern auch aus einem anderen, tieferen Grund: Sie verweisen auf etwas zurück, was den Menschen selbst kennzeichnet, sind so etwas wie die Spiegelung einer Sichtweise des Menschen, die der österreichische Caritaspräsident Franz Küberl in der Formulierung zusammengefasst hat, "dass der Mensch, jeder Mensch, ein Gesamtkunstwerk ist".7

Diese Metapher lässt viele Assoziationen zu. Jeder Mensch, so sagt sie, ist ein Kunstwerk, unverwechselbar und einmalig in seinen vielen Dimensionen: in seiner Fähigkeit, in Freiheit zu handeln und zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen und seinem Gewissen zu folgen; in seiner Begabung zur Liebe und in der Differenziertheit seiner zwischenmenschlichen Beziehungen, in seinem Sprechen und Schweigen; in seinem Denken, Hoffen, Sehnen und Glauben und auch in seinem persönlichen Bewältigen von Schuld und Angst.

Wie jedes Kunstwerk ist der Mensch Ausdruck eines schöpferischen Willens. Zugleich lebt er - wie das Kunstwerk - von der Aufmerksamkeit und der Auseinandersetzung des Betrachters. Und vieles daran entzieht sich der eindeutigen Interpretation und verweist ins Unsagbare.

Und noch in einem anderen Sinn drückt die Kunst-Metapher etwas über den Menschen und über den Prozess des Menschseins aus. Jeder Mensch trägt ein einmaliges Bild in sich: sein Selbst, seine Identität. Und er hat es zugleich immer noch vor sich: als Bestimmung, als Ziel und Woraufhin seines Lebens. "Vor jedem steht ein Bild", hat der schlesische Barockdichter Angelus Silesius einmal gesagt. Menschsein, menschliches Leben bedeutet, ein Leben lang das Bild seiner selbst zu gestalten, das doch immer schon angelegt ist - zu gestalten und zu verwirklichen in der spannungsreichen Ganzheit seiner sozialen, ethischen, ästhetischen und religiösen Dimension.

Ich bin ich und erfahre zugleich, dass ich doch erst ich selbst werden soll. Mein Leben ist ein Entwurf, stets unfertig und darauf ausgerichtet, dass es einmal zu dem Bild wird, das immer schon in mir ist.

Aber wann ist ein Bild jemals fertig?, hat Picasso einmal gefragt. Er hat damit die Kunst gemeint, aber es gilt durchaus auch für den Menschen, für den Menschen als ein auf seine Vollendung hin ausgerichtetes "Gesamtkunstwerk".8

Allerdings: dieser Weg verläuft nicht ohne Brüche; Versagen und Schuld kommen darin ebenso vor wie Unglück und Tragik, für die es keine rationale Erklärung gibt. Die Freiheit des eigenen Handelns und der persönlichen Entfaltung ist vielfach eingeschränkt - zum einen, weil die Natur uns Grenzen setzt, aber auch wegen des sozialen Erbes, das wir mitbringen, wegen der Benachteiligungen, denen wir ausgesetzt sein können, wegen Ungerechtigkeit und strukturellem Unrecht, die Menschen auf die Schattenseite des Lebens stellen und sie oft keine offene Perspektive erkennen lassen. Mancher junge Mensch wird an der Entfaltung seines Lebensentwurfs gehindert, bevor er überhaupt zu leben begonnen hat - an der Ausgestaltung des Bildes seiner selbst, des Kunstwerks, das er sein könnte.

Kindern etwas zutrauen

Damit komme ich zu der Initiative für benachteiligte junge Menschen, der die Kampagne der Caritas im Jahr 2007 gewidmet ist. "Mach dich stark für starke Kinder", lautet ihr Slogan.

Die Düsseldorfer Werbeagentur BBDO Campaign hat dazu vier Motive gestaltet. Sie zeigen vier Kinder - jeweils vor dem Hintergrund des desolaten sozialen Milieus, in dem sie aufwachsen müssen. Aber die Kinder selbst bilden dazu einen starken Kontrast. Da ist ein kleines Mädchen, vier oder fünf Jahre alt. Auf dem Kopf trägt sie eine Krone aus Blech, aus einer Plastiktüte hat sie ein festliches Gewand gemacht, und in der Hand trägt sie - wie eine Prinzessin oder eine Fee - ein Szepter mit einem Stern. "Ich kann ganz viel. Du musst mich nur lassen", sagt sie dem Betrachter. Da ist ein vielleicht achtjähriger Junge in einem Spyderman-T-Shirt; er ballt die Muskeln an seinen schmalen Ärmchen, Entschlossenheit im Gesicht. "Ob er zeigen kann, was wirklich in ihm steckt, liegt an uns allen", lesen wir unter dem Bild. Ein anderer Junge, wenig älter, mit dem Umhang eines Zauberers bekleidet und mit einem weißen Hasen im Arm, reckt den rechten Arm empor und will gerade zum Flug über die Dächer ansetzen - Superman, wenigstens in seiner Fantasie. "Lassen wir ihn so stark werden, wie er sich jetzt noch fühlt", werden wir aufgefordert. Und schließlich hat sich ein kleiner Junge, erkennbar als Kind aus einer Migrantenfamilie, als Batman verkleidet: "Lass ihn zeigen, was in ihm steckt."

Vier Kinder mit einem (noch) ungebrochenen Selbstbewusstsein. Sie spielen - und sie sind (noch) von der Realität dessen überzeugt, was sie spielen. Sie fühlen sich als Helden und sind es - angesichts der Schwierigkeiten ihrer Lebensumstände - in gewisser Weise auch. Sie haben noch viel Kraft in sich. Und ähnlich wie die Helden im Märchen oder in der Sage müssen sie ausziehen und sich im Lebenskampf bewähren (und wenn sie Prinzessinnen sind, müssen sie gerettet werden). Dafür sind sie - neben ihrer eigenen Stärke - auf "gute Mächte" angewiesen, auf Menschen, die sie auf diesem Weg unterstützen und bestärken.

Der eigene Weg zum Erwachsensein

Die Kampagne hat bewusst - das ist ihre Stärke und ihre Schwäche - Kinder zum Motiv genommen. Nicht nur, weil deren Appell anrührt, sondern weil in ihnen noch alle Möglichkeiten offen liegen, weil in ihnen noch der Elan kindlichen Zukunftsglaubens lebendig ist; weil ihr Selbstbewusstsein (oft) noch nicht gebrochen und in Resignation oder Wut umgeschlagen ist.

Gewiss: Schwierigkeiten und Härten werden nicht ausbleiben; sie bleiben keinem erspart. Aber entscheidend ist, mit welchem Rüstzeug ein junger Mensch sich ihren Herausforderungen stellen kann. "Wenn sich zeigt, dass ihre Unternehmungslust zu Erfolg führt, und sich die Erfolgserlebnisse wiederholen, wenn das Kind mitzählt und einen Platz einnehmen kann, entsteht bei ihm das gute Gefühl, wirklich etwas zu können und nicht zurückstehen zu müssen. Dann wird in Kindern der 'Held' geboren, der ein Bewusstsein von seinem eigenen Ursprung gewinnt. Hierin liegt die erste Vorbereitung auf die 'Rückreise', das heißt, zum Weg zu einer eigenen Form des Erwachsenseins, in Auflehnung gegen die Vergangenheit oder in Aussöhnung mit ihr unter Wahrung des Eigenen. Auch hier ist es unvermeidlich, dass dieses junge Selbstgefühl angetastet wird. Geschieht dies zu hart, dann wird kein Held, sondern ein Abhängiger geboren, ein Unterlegener, der nicht zurückkehren wird. Es sei denn, es kommt jemand, der sorgt. Jedes Kind stößt auch hier an Grenzen. Denn die Helden leben nur in unseren Geschichten. Aber wir sind Menschen und haben immer etwas vom Helden und etwas vom Abhängigen zugleich. In dieser wechselhaften Entfaltung entfaltet sich das Verlangen - das Verlangen, 'groß zu sein'. Das hält das Leben in Gang, bis in das Erwachsensein und darüber hinaus." 9

Ein Appell an die Erwachsenen

Der Slogan, der unter allen vier Motiven steht und der die gesamte Kampagne trägt - "Mach dich stark für starke Kinder." - ist ein Appell an die Erwachsenen, der unmittelbar aus der Sprache dieser Bilder hervorgeht. Er richtet sich nicht an eine anonyme Allgemeinheit, er richtet sich an mich persönlich und verweist mich an meine eigene, nicht delegierbare Verantwortung. Er besagt: Mach einem jungen Menschen Mut, seine eigenen Fähigkeiten zu entdecken und zu entfalten. Stärke ihm den Rücken, gib ihm eine Hilfestellung, dass er Schritte ins Offene und Neue wagen kann. Gib ihm Rückhalt, dass er die Kraft entwickelt und bewahrt, vorwärts zu gehen und in Freiheit seinen eigenen Weg zu finden. Bleib zurück, wenn der Absprung gelungen ist. Aber lass ihn nicht fallen, wenn der eine oder andere Anlauf misslingen sollte. Lass ihn spüren, dass er auch stark sein kann, wenn er schwach zu sein scheint. Zeige ihm, dass er Großes vor Augen haben muss, wenn er über sich hinauswachsen will.

Junge Menschen befähigen

Der Deutsche Caritasverband hat sich diesen Appell zu eigen gemacht und eine so genannte "Befähigungsinitiative" ins Leben gerufen. Diese hat viele Facetten: Die Verbände, Dienste und Einrichtungen der Caritas sollen motiviert werden, ihre oft ausgezeichnete Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe und in der Jugendsozialarbeit öffentlich zu machen und so anderen Beispiele zu geben, die sie mit ihren eigenen Möglichkeiten aufgreifen und weiter entwickeln können. Sie werden aufgefordert, verstärkt Ausbildungplätze und Anstellungsmöglichkeiten besonders für benachteiligte junge Menschen zu schaffen. In Kindertagesstätten kann durch eine integrierende Erziehungs- und Elternarbeit wertvolle Prävention geleistet werden. Neue Berufsbilder für gering qualifizierte Jugendliche sollen entwickelt werden. Durch sozialpolitische Lobbyarbeit soll auf ein Schulsystem hingewirkt werden, das nicht einseitig begabte Kinder und Jugendliche fördert, sondern verstärkt auch solche junge Menschen im Blick hat, deren Ausbildungs- und Zukunftschancen stark beeinträchtigt sind. Kinderrechte sollen gestärkt werden. Und vieles andere mehr - Hinweise müssen hier genügen.10

Nicht um eine Fülle von Beispielen gelungener Praxis und politischer Initiativen geht es aber in diesem Beitrag, sondern um eine Reflexion des Hintergrunds, aus dem diese Aktivitäten erwachsen. Es geht um ein Bild des Menschen, das die Caritas in ihrem Handeln leitet und das stets kritischer Maßstab gegenüber jeder Versuchung zum Aktionismus bleiben muss.

Der Gedanke der "Befähigung" hat mehrere Aspekte. Er beinhaltet zum einen ein grundlegendes Vertrauen in die Fähigkeiten, in die Kräfte, die in jedem Menschen lebendig sind - mögen sie auch verschüttet, behindert oder verfälscht sein. Und er bedeutet zugleich einen Handlungsimpuls: Menschen sollen ermutigt und darin unterstützt werden, ihre jeweils individuellen Fähigkeiten zu entdecken und zu entfalten und so ihren eigenen, unverwechselbaren Platz im menschlichen Miteinander, in der Gesellschaft zu finden. Diese Unterstützung ist eine Form, Gerechtigkeit zu verwirklichen - "Befähigungsgerechtigkeit" lautet das Stichwort. Sie ist besonders jungen Menschen geschuldet - Kindern und Jugendlichen, möglichst früh, aber ohne Altersbegrenzung -, die gerade erst dabei sind, sich selbst und ihren Platz im Leben und im Gemeinwesen zu finden. Sie ist eine Befähigung zu Mündigkeit und Freiheit und damit ein Dienst an der Menschenwürde.

Und sie ist auch dort berechtigt und um so notwendiger, wo ein junger Mensch in seiner jeweils eigenen Individualität den Erwartungen und Normen der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Arbeitsmarkts nicht gerecht werden kann. Dort hört der selbstverpflichtende Anspruch der Caritas nicht auf, dort beginnt er vielleicht sogar erst wirklich.

Natürlich - um Missverständnissen vorzubeugen - sind schulische Ausbildung und berufliche Qualifizierung ein zentrales Element einer solchen Befähigung, stellen sie doch eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, unter den konkreten Bedingungen unserer Gesellschaft eine anerkannte Rolle zu spielen. Aber die Befähigung auf Qualifizierung zu beschränken, würde eine Reduzierung der Menschen auf gesellschaftlich akzeptierte und geforderte Zwecke bedeuten.

Dem steht bereits Immanuel Kants so genannter Kategorischer Imperativ entgegen, der die nicht zu verzweckende Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Aus der Maxime, dass der Mensch ein "Zweck an sich selbst" sei, nicht nur ein "Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen", dass er also niemals Mittel zum Zweck sei, sondern "etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat", folgert er den praktischen Imperativ:

"Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." 11

Es geht um Bildung

Es geht um mehr als um Qualifizierung, es geht um Bildung in einem ursprünglichen und umfassenden Sinn. Es geht darum, junge Menschen dazu zu ermutigen, das Bild ihrer selbst herauszubilden, das unverwechselbar in jedem von ihnen ist und auf das hin sie ein Leben lang unterwegs sind - in der spannungsreichen Ganzheit der sozialen, ethischen, ästhetischen und religiösen Dimensionen ihres Menschseins, auch unter Bedingungen, unter denen dieses Bild in seiner Ausgestaltung behindert ist. Sie sind dabei auch auf Ermutigung angewiesen, sich in dem Bild, das sie darstellen, selbst annehmen und bejahen zu können. Sonst kann die Verzweiflung über sich selbst in Aggression und Gewalt gegen andere umschlagen.

Hier wird der Kern der Caritas-Botschaft berührt. Worin er besteht, führt Franz Küberl in der ihm eigenen plastischen Sprache aus: "Der Herrgott hat doch jedem zugesprochen, dass er einmalig ist, und dass das der Kern dessen ist, warum man sich selber eben auch mögen können soll.
Und nur wenn man sich selber mag, kann man auch andere mögen."

Dies sei "die einzige Chance ..., dass Menschen sich als Gesamtkunstwerk des Herrgotts verstehen können". 12

Es geht also darum, dieses "Gesamtkunstwerk" entdecken zu helfen und sichtbar werden zu lassen, das jeder Mensch darstellt.

Und schließlich führt Küberls letztgenannte Äußerung zu dem Gedanken hin, dass das lebenslang nicht vollendete Bild eines Menschen in eine Offenheit, in ein Geheimnis hineinragt, das sich allen vereinnahmenden Bewertungen und Deutungen entzieht. In ihm scheint nach christlichem Glauben das Bild des geheimnisvollen Gottes auf - und verbirgt sich auch. "Gottebenbildlichkeit des Menschen" sagt dazu die jüdische und christliche Tradition. Mehr lässt sich über die Würde eines Menschen nicht sagen.
 


 
1 Die aktuellen Daten zur Jugendarbeitslosigkeit entstammen einer Pressemeldung des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden vom 10. August 2006.

2 Vgl. dazu den Beitrag "Manchmal tickt eben einer aus." Vier Berliner Jugendliche sprechen über die alltägliche Gewalt an ihren Schulen, gestresste Lehrer, private Probleme und den Voyerismus der Medien, in: Süddeutsche Zeitung, Nr.153, 6. Juli 2006, S. 9.

3 Katja Bauer: "Ein Rütli-Rap auf kenianisch-deutsch, Das Projekt School-Tour reist durch deutsche Problemschulen", in: Badische Zeitung, Nr. 3. Juli 2006, S. 3.

4 Susanne Link: "Der Konflikt mit allem und jedem. Theaterprojekt 'Nur Mut' stellt sich der Alemannenschule in Hartheim vor. Orientierungshilfe für junge Menschen", in: Badische Zeitung, 28. Juli 2006, S. 36.

5 Julia Littmann: "Hier nimmt alles Gestalt an. Die Projektwerkstatt 'Kubus3' nimmt jetzt ihre gut vernetzte Arbeit im Kulturpark auf", in: Badische Zeitung, 28. Juli 2006, S. 22.

6 S. o. Anm. 3.

7 Franz Küberl: Caritas - Vorhof der Kirche. Glücksausgleichsfonds zwischen Arm und Reich, in: H. Manderscheid/J. Hake (Hrsg.): Wie viel Caritas braucht die Kirche - wie viel Kirche braucht die Caritas?, Stuttgart, 2. Aufl. 2006, 111.

8 Ich verdanke diese philosophisch-anthropologischen Gedanken dem Werk von Joseph Möller, Mensch sein: ein Prozeß. Entwurf einer Anthropologie, Düsseldorf 1979; ich selbst habe diese Gedanken an anderer Stelle auf den Aspekt der Menschenwürde hin interpretiert: Thomas Broch, Menschenwürde (Heribert Welter zu Ehren), In: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), caritas '97. Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg i. Br. 1996, 95-104.

9 Herman Andriessen: Lebensweg, Lebenssinn und pastorales Handeln, Düsseldorf 1982, 32.

10 Zur Vorbereitung der Kampagne 2007 hat Laura Zucchoni eine "Hintergrundanalyse für das Jahresthema 2007 des Deutschen Caritasverbandes" erstellt, in der die sozialpolitischen Stellungnahmen des DCV sozialwissenschaftlichen Erhebungen und sowie kinder-, jugend-, familien- und bildungspolitischen Positionen der Bundesregierung und der politischen Parteien gegenüber gestellt werden (Stand: Ende 2005). Der Bericht kann als pdf-Datei abgerufen werden unter www.caritas.de // Jahresthema 2007.

11 Immanuel Kant, Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten, BA 64.67 = Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel (Sonderausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft), Bd. 6, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Erster Teil, Darmstadt 1983, 59.61.

12 Franz Küberl: s. o. Anm. 7.

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