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Ganzheitliches Lernen
 

 

Warum ist ganzheitliches Lernen wichtig?

Aus: WWD 2001, Ausgabe 75, S. 12-13
Charmaine Liebertz

Wie alt ist die Forderung nach ganzheitlichem Lernen?

Auf jeden Fall ist sie nicht neu. Schon recht früh erkannten Pädagogen, Philosophen und Psychologen, dass ganzheitliches Lernen und vielfältige Sinneserfahrungen für die kindliche Entwicklung bedeutsam sind:

Diese frühen Theorieansätze verstanden unter Sinnesschulung ein hartes Training, in dem einzelne Sinnesorgane geschärft werden sollten. Noch fehlte die Erkenntnis, dass der gezielte Einsatz aller Sinne unsere Denk- und Lernleistung zu verbessern vermag. Als erste ging die italienische Ärztin Maria Montessori (1870-1952) davon aus, dass das Kind in seiner Entwicklung einem biologischen Bauplan folgt, den es pädagogisch zu fördern gilt (vgl. Heiland 1996). Nach dem Motto „Hilf mir, es allein zu tun“ entwickelte sie sinnesaktivierende Lernmittel, die heute allen Pädagogen als Montessori-Material bekannt sind.

Dieser kleine historische Exkurs hat uns gezeigt, dass ganzheitliches Lernen keine Erfindung der neuen Pädagogik ist. „Lernen mit allen Sinnen“ ist eine wieder entdeckte Forderung. Heute können wir sie allerdings mit Erkenntnissen aus der Hirn-, Intelligenz- und Lernforschung untermauern. Die damalige Vermutung, dass Kopf, Herz und Hand eine Lerneinheit bilden könnten, ist heute eine wissenschaftlich fundierte Gewissheit.

Wie funktioniert unser Gehirn?

Sie, liebe Leser, wissen aus eigener Erfahrung, dass Denken, Erfahren und Empfinden nicht voneinander losgelöst - sozusagen in „Separées“ - stattfinden. Vielmehr arbeiten Wissen, Gefühle, Fähigkeiten und Fertigkeiten vernetzt miteinander. Kein künstliches Gehirn vermag dies! Auch als der IBM-Schachcomputer „Deep Blue“ am 11. Mai 1997 den Schachweltmeister Garri Kasparow in die Knie zwang, so war dies noch lange kein Sieg über das menschliche Hirn. Denn Großrechner arbeiten engstirnig im Vergleich zu unserem nur 1500 Gramm schweren Gehirn. Mit seiner Hilfe können wir mehr als nur Schach spielen: Wir analysieren Börsenkurse, empfinden Glücksmomente bei der Betrachtung eines Gemäldes, erwecken Kindheitserinnerungen durch kleine Melodien zum Leben, verstehen die komplizierten Satzkonstruktionen, schreiben Gedichte, komponieren Musikstücke, wählen von unzähligen Gerichten einer Menükarte das passende für uns aus, ziehen einen Faden durch ein winziges Nadelöhr und können dabei gleichzeitig von der Zukunft träumen! Und jede Sekunde unseres bewussten Denkens, Fühlens und Handelns steuert diese geniale "Schaltzentrale Hirn".

Aber wie entwickelt sich darin unser Verständnis von der Welt, d.h., wie funktioniert die Aufnahme und Weiterleitung der vielfältigen Informationen? Zunächst benötigen wir „Datenautobahnen“, die die Reize unserer Außenwelt aufnehmen. Diese Arbeit übernehmen unsere Sinnesorgane wie Auge, Ohr, Haut, Nase und Zunge. Ein „Telefonnetz“ aus Nervenzellen (Neuronen) sorgt nun mit elektrischen Impulsen für die Übertragung ins Gehirn. Hier steht ein gigantisches Netzwerk zur Verfügung:

Mit Hilfe von chemischen Botenstoffen - den sogenannten Neurotransmittern - werden die elektrischen Impulse von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen. Jede Nervenzelle verfügt über einen Sender und eine Vielzahl von Empfängern, mit denen sie die Informationen anderer Nervenzellen aufzunehmen vermag.

Übrigens, chemische Stoffe spielen nicht nur bei Weiterleitung von Informationen eine wichtige Rolle. Auch wenn wir erworbenes Wissen ins Langzeitgedächtnis ablegen, hat die Chemie ihre Hand im Spiel. Eiweißstoffe dienen als sogenannte Gedächtnismoleküle, um Informationen langfristig zu speichern. Da im zunehmenden Alter die körpereigene Produktion von Eiweißstoffen abnimmt, ist es auch verständlich, dass es älteren Menschen oft sehr schwer fällt, aktuelle Informationen lange im Gedächtnis zu behalten.

Was lernen wir daraus?

Wer nun immer noch denkt, dass lernen bloß denken lernen bedeutet, hat nichts gelernt! Die neue Hirn- und Intelligenzforschung lehrt uns, dass unser Hirn nicht nur die Zentrale des Denkens, sondern aller Steuerungsprozesse des Menschen ist! Ob wir ein Lied singen oder unser Auto steuern, jedes Mal findet in unserem Hirn ein Kommunikationsfeuerwerk zwischen Millionen von Neuronen und multiplen Intelligenzen, zwischen Sinnesorganen, Bewegungsapparat und Gefühlen statt. Gehirnforscher schätzen, dass der Durchschnittsmensch nur etwa 10% der Gesamtkapazität seines Gehirns nutzt.

Also, keine Sorge, auch Sie können in der Erziehung dem genialen Netzwerk des kindlichen Hirns nicht überall und jederzeit gerecht werden. Aber eines ist gewiss: Je mehr neuronale Schaltungen wir im kindlichen Hirn aktivieren, umso intensiver fördern wir vernetztes Lernen und Denken. Und wir lernen optimal und effektiv, wenn möglichst viele Sinne und beide Hirnhälften eine gelungene Symbiose eingehen! Zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat vernetzen sich die Funktionen der beiden Gehirnhälften. Von nun an speichern wir solche Informationen nachhaltig ab, die mit beiden Hirnhälften erarbeitet wurden. Zum Beispiel wird ein Kleinkind trotz ständiger Ermahnungen immer noch auf die Straße laufen. Nicht wenn es von der Gefahr gehört hat, sondern erst wenn es sie erlebt und gefühlt hat, wird es sie hirngerecht begriffen haben und sein Verhalten ändern. Und dies gilt nicht nur für Kleinkinder!

Das ganzheitlich arbeitende Gehirn verdient ganzheitliches Lernen!

In unserem Gehirn findet ein fantastischer Austausch statt zwischen rechter und linker Hirnhälfte, zwischen Sinneseindrücken und Gefühlen, zwischen elektrischen Impulsen und chemischen Botenstoffen, zwischen gespeicherten und neuen Informationen und zwischen vielen Intelligenzbereichen. Dieses ganzheitlich arbeitende Gehirn verdient ganzheitliches Lernen! Denn ausschließlich linksseitiges also halbhirniges Lernen ist eine Beleidigung für jedes intelligente Wesen!

Aber nicht nur die neuen Erkenntnisse aus der Hirn- und Lernforschung sondern auch die zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen) erfordern ein Umdenken beim Lernen. Und zwar ein Umdenken, dass das Kind wieder in seiner Ganzheit respektiert. Schließlich kommt es als Kleinkind voller Neugier in den Kindergarten und in die Schule. Es hängt weder seine Gefühle mit dem Anorak an den Garderobenhaken, noch wartet es mit leerem Kopf darauf, mit Wissen gefüllt zu werden. Manch einer würde am liebsten nur den Kopf in die Schule schicken, aber bedenken Sie bitte: Immer kommt das ganze Kind!

Unsere Kinder brauchen mehr denn je die Herausforderung an eigenes Denken, Fühlen, Erleben und Handeln. Denn die künstlichen Bilder aus den Medien verdrängen zunehmend die konkrete, „echte“ Begegnung von Kind und Welt. Unsere Kinder brauchen vielfältige, persönliche Erfahrungen, denn das Greifen, das allem Begreifen vorausgeht, kann weder durch die Medien noch durch den Computer ersetzt werden.

Unsere Kinder brauchen Lernprozesse, bei denen Erfahren, Entdecken und Erforschen am Anfang stehen. Sie brauchen Lernprozesse, die Bewegung, Sinneswahrnehmung und Erkenntnis effektiv verknüpfen. Unsere Kinder haben nicht nur sprachliche und mathematische Fähigkeiten; sie können mehr als nur sprechen, rechnen und lesen. Und die Forschungsergebnisse machen Mut, neue Wege des Lernens zu gehen: Lernen als einen ganzheitlichen Reifungsprozess von Geist, Körper und Psyche zu verstehen, als ein sich ständig entwickelndes Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen, Denkleistungen, Bewegungsabläufen und Gefühlen.

Fördern Sie eine ganzheitliche Arbeitsweise zu Hause und in den pädagogischen Einrichtungen. Errichten Sie Leseecken, Mathe-Labors, Schreib- und Druckecken, Bastelräume und legen Sie Schulgärten an, in denen besonders Stadtkinder wieder lernen, zu säen, zu pflegen und zu ernten.

Stellen Sie sich immer wieder die Frage, ob Sie der geistigen, psychischen und körperlichen Vielfalt Ihrer Kinder in ihren Stärken und Schwächen gerecht werden. Überprüfen Sie, wann und wie Sie die verschiedenen Intelligenzbereiche, vernetztes und ganzheitliches Lernen fördern. Diese Schlüsselaussagen zum ganzheitlichen Lernen werden Ihnen dabei helfen:

 
Literatur
Heiland, H.: Maria Montessori. Hamburg 1996
Rousseau, J.-J.: Emile oder Über die Erziehung. Paderborn 1975

Weiterführende Literatur
Mehr zum Thema finden Sie in den Büchern der Autorin:
„Schatzbuch des ganzheitlichen Lernens“, Don Bosco-Spectra-Verlag, 2001, 3. Auflage
„Spiele zum ganzheitlichen Lernen“, Don Bosco-Spectra-Verlag, 2000

Biographie
Dr. Charmaine Liebertz, geb. 1954 in Köln, Lehrerin für die Sekundarstufe I, arbeitete zehn Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Köln im Bereich Heilpädagogik und war drei Jahre redaktionelle Mitarbeiterin bei der Deutschen Welle, Redaktion Bildung und Kultur. Seit 1996 leitet sie die Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e. V. und hält zahlreiche Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte und Eltern.


 

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