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Lernen mit beiden Gehirnhälften
 

 

Clustering - eine assoziative Ideenverknüpfung

Übersicht
Beispiel 1
Clustering / Hirnhemisphären
rechts nach links / links nach rechts
Beispiel 2
Aus: Gabriele L. Rico „Garantiert Schreiben Lernen“, rororo, S. 82ff und Buchrückseite

Von entscheidender Bedeutung in der Frage der Gehirnhemisphären ist nicht ihre Trennung, sondern ihre Einheit ihr Zusammenwirken. Das Corpus callosum ist ein vielbenutzter Zweiwegkanal, keine Berliner Mauer. Es sorgt für Austausch und Ganzheit. Die Informationen jeder Seite sind für das Ganze von gleichem Interesse - wie die Töne in den Lautsprechern einer Stereoanlage. Balance ist das Schlüsselwort. Das Schlagzeug muss so weit gedrosselt werden, dass es die Streicher nicht übertönt.
 

Sehr persönliche Geschichte einer Autorin nach einem Cluster „Anklammern“
Cluster Anklammern
 
Fast durchsichtig sind Babyhände. So unglaublich zart - und ein Mund wie eine gefaltete Rose. Wie überraschend kräftig sein Saugen. Wie ungeduldig. Der winzige, flaumige Kopf in deine Hand geschmiegt, wie zerbrechlich und doch hartnäckig und unbezähmbar in seinem Bestreben, sich aufzurichten und die Welt um sich her in Augenschein zu nehmen. Wie er dir gegen Brust und Wange drängt und stubst. Das winzige Ohr rosa gefältelt gegen weiches braunes Haar. Und der Duft des Neugeborenen, so nahrhaft wie eine Mahlzeit und ebensoviel Zufriedenheit schenkend. Blaue Augen dicht unter zarten Wimpern. Und im Schlaf das Lächeln eines Engels. Du klammerst dich eng an den winzigen Körper in deinen Armen und fühlst dich reich und ganz.
Lavelle Leahey

Die Unmittelbarkeit, die Vielfalt der Details und der intensive Gefühlsausdruck dieses Textes bezeugen, dass das Kernwort «anklammern» eine heftige Reaktion im Gedächtnisspeicher der rechten Hemisphäre hervorgerufen und eine Fülle von Gefühlen und Vorstellungsbildern freigesetzt hat.
All das lässt darauf schließen, dass die auf Muster, Emotionen und Offenheit spezialisierte rechte Gehirnhälfte wesentlich an der ästhetischen Wiedergabe unserer Welt beteiligt ist. Wie bereits angedeutet, heißt ästhetische Erkenntnis: 1. sich einer in sich geschlossenen Ganzheit bewusst sein, in der unsere übliche Fixierung auf Einzelheiten aufgehoben ist; 2. Befriedigung, die sich einstellt, wenn wir dem chaotischen Zustand der Welt eine Form abgelauscht oder abgerungen haben.
Geistige Aktivität ästhetischer Art, primär eine Funktion der rechten Hemisphäre, steht am Anfang des kreativen Prozesses. Doch der schöpferische Akt selbst ist auch auf die besonderen Talente der linken Hemisphäre angewiesen. Ja, sein besonderes Merkmal dürfte gerade das dynamische Wechselspiel zwischen der globalen Sehweise und der Wahrnehmung der Details sein. Die schöpferische Arbeit beginnt mit den globalen Möglichkeiten, die neue Einzelheiten in den Blick rücken; die Einzelheiten wiederum verändern, profilieren und klären den ursprünglichen globalen Entwurf. Die rechte Hemisphäre erfasst die Gesamtstruktur, den Zusammenhang, während die linke Hälfte Einzelheiten und Folgerichtigkeit beisteuert. Der schöpferische Akt ist ein ständiges Hin und Her zwischen ganzheitlichem Entwurf auf der einen und Teilansichten und Ordnungsprozessen auf der anderen Seite - ein Wechselspiel, aus dem sich das Ganze in immer klareren Konturen herausschält. Daraus folgt, dass kreativer Sprachgebrauch die aktive Mitwirkung der rechten Hemisphäre voraussetzt. Beim natürlichen Schreiben müssen beide Hemisphären eng zusammenarbeiten.
Das natürliche Schreiben wird mühsam bleiben, solange es nicht gelingt, die besonderen Fähigkeiten beider Gehirnhälften in den Prozess einzubeziehen. Ein durch das Clustering geschärfter Sinn für die wirklich bedeutungsvollen Elemente, ein empfindliches Ohr für sprachliche Nuancen, der Blick für das Ganze, die Offenheit für Gefühle - alle diese Merkmale rechtshemisphärischen Denkens schaffen ein Höchstmaß an schöpferischer Freiheit. Wenn diese Voraussetzung gegeben ist, wird sich die linke Hemisphäre automatisch einschalten und einen ganz natürlichen und scheinbar unerschöpflichen Fluss von Wörtern hervorbringen.

In den letzten Jahren ist es den Gehirnforschern gelungen, die „Black box“ zu öffnen und festzustellen, was sie tatsächlich enthält. Zwar stehen wir mit unseren Erkenntnissen erst am Anfang, doch haben bereits diese ersten Ergebnisse unsere Vorstellungen vom schöpferischen Prozess bestätigt und vertieft und zugleich neue Möglichkeiten eröffnet, uns über ihn zu verständigen. Für alle die, die eigentlich schon immer schreiben wollten und nur meinten, sie könnten es nicht, ergeben sich daraus ganz neue Lern- und Lehrverfahren.

 

Das Clustering und die Hirnhemisphären

Da ich das Clustering vor allem entwickelt habe, um die Fähigkeiten der rechten Gehirnhälfte einzubeziehen, ist es der erste und wichtigste Schritt beim Erlernen des natürlichen Schreibens und die Grundlage dieses Buches. Es ist die Voraussetzung (und ein Bestandteil) der anderen Verfahren, die gleichfalls dazu dienen, die Wahrnehmungsvielfalt der rechten Hemisphäre zu erschließen. Deshalb möchte ich das Clustering noch einmal im Lichte dessen beschreiben, was wir über die Arbeitsweise unseres Gehirns erfahren haben.

  1. Das Clustering bricht die Vorherrschaft, die wir gewöhnlich der systematischen Arbeitsweise der linken Gehirnhälfte zubilligen, zugunsten der scheinbar zufälligen rechtshemisphärischen Assoziationen, die in nichtlinearer Form zu Papier gebracht werden.

  2. Beim Clustering spielen linkshemisphärische Sprachmerkmale wie Syntax, Folgerichtigkeit und Kausalverknüpfungen kaum eine Rolle. Infolgedessen haben Wörter die Tendenz, ihre herkömmliche begriffliche Bezeichnungsfunktion aufzugeben und Bildcharakter anzunehmen, von wörtlicher Bedeutung zu komplexen und poetischen Vorstellungsbildern überzugehen.

  3. Das Clustering eröffnet der rechten Gehirnhälfte die Möglichkeit, die für ihre Form der Informationsverarbeitung charakteristischen unverbrauchten Wahrnehmungen und bedeutungsvollen Muster zu entwickeln.

  4. Das Clustering bezieht die rechte Hemisphäre dadurch ein, dass es dem Fluss der emotional gefärbten Bilder, Ideen und Erinnerungen freien Lauf lässt, bis sich der erste, vorläufige Entwurf einer Ganzheit abzeichnet und der Schreibprozess mühelos in Gang kommt.

  5. Das Clustering macht sich das kindliche, staunende, unschuldige, neugierige, spielerische, offene, flexible, nach Mustern suchende Denken zunutze, das ich als bildlich bezeichnet habe und dank dessen wir ein kreatives Spiel mit Sprache, Ideen, Rhythmen, Bildern, Lauten und Mustern entfalten können, bevor wir uns auf eine bestimmte Richtung festlegen. Kurz, wir erweitern das Spektrum unserer Möglichkeiten.

Der Schlüssel zu dem komplexen Umgang mit sprachlichen Symbolen, den das Schreiben gewiss darstellt, ist das Zusammenwirken beider Denkweisen. Kreative Leistungen bringen Befriedigung, bereichern und stabilisieren unser Leben. Sie geben uns die Möglichkeit, unsere Individualität zum Ausdruck zu bringen und plötzlichen Einsichten in unsere vielschichtige Existenz Gestalt zu verleihen.

Von rechts nach links, von links nach rechts - Schreiben mit den Potentialen beider Hemisphären

Um meinen Schülern eine ungefähre Vorstellung davon zu vermitteln, wie man unter dem vorwiegenden Einfluss des begrifflichen beziehungsweise bildlichen Denkens schreibt, habe ich ihnen die Aufgabe gestellt, sich zu dem englischen Sprichwort «Ein rollender Stein setzt kein Moos an» zunächst aus der Sicht des begrifflichen Denkens zu äußern, dann (mit Hilfe des Clustering) aus der Perspektive des bildlichen Denkens, und schließlich in Form eines Textes eine Synthese beider Aspekte herzustellen. Um sie auf die Aufgabe vorzubereiten und um ihnen die wichtigsten Unterschiede ins Gedächtnis zu rufen, hatte ich ihnen folgende Beispiele für die beiden Denkweisen zusammengestellt:

Reaktion der linken Hemisphäre

Das Unendliche ist unbegrenzt in Raum, Zeit oder Menge (reine Abstraktion)
Frau: Erwachsener weiblichen Geschlechts (wörtliche Definition)
«Viele Köche verderben den Brei» heißt, dass die Suppe verdirbt, wenn viele Köche sie kochen (wörtlich, logisch)

Reaktion der rechten Hemisphäre

Das Unendliche ist wie eine Schachtel Cream of Wheat (reines Bild)
Frau: «Sieben Jahre, seit ich das weite weiche warme weißschenklige Weib freite. Umwarb und freite.» (qualitativ, Sprachmuster, bildlich, rhythmisch)
«Viele Köche verderben den Brei» - also (der Befragte prüft die Möglichkeiten) «das könnte bedeuten, dass ein Kind, das zu vielen widersprüchlichen Erziehungsmaßnahmen von zu vielen wohlmeinenden Erwachsenen ausgesetzt ist, sein Leben lang nicht wissen wird, wie es sich verhalten soll. Wie würden Sie es auffassen?» (metaphorisch, interpretierend)

Reaktionen des begrifflichen Denkens sind durch ein hohes Maß an wortwörtlichem Verständnis gekennzeichnet. Sie lassen sich im Wörterbuch nachschlagen, sie gehen nicht über das Gegebene hinaus, sie sind genau. Reaktionen des bildlichen Denkens tendieren zu einem metaphorischen Verständnis (der Brei wird zum Kind); sie entwerfen ein komplexes Bild oder eine Reihe miteinander verknüpfter Bilder, sie sind individuell, sie streben nach Geschlossenheit, sie gehen über das Gegebene und die wortwörtliche Bedeutung hinaus.

Der fertige Text ist das Ergebnis des Zusammenwirkens beider Denkweisen, was uns wieder einmal zeigt, dass schreiben im Idealfall ein komplexer schöpferischer Akt ist, der ein zeitlich geordnetes Zusammenspiel beider Gehirnhälften verlangt.
Ich möchte diese Übung am Beispiel einer meiner Schüler, Art Carey, demonstrieren. Die Reaktion seines begrifflichen Denkens auf das Sprichwort lautete:
Ein rollender Stein ist immer frei von Moos, weil er nicht so lange an einem Ort bleibt, dass sich Lebewesen an seiner Oberfläche festsetzen können.

Ein weiteres Beispiel:
Angeregt durch eine Napoleon-Statue des Bildhauers Canova schrieb ein Schüler bereits nach wenigen Tagen seine erste Geschichte.

napoleon

«Es war nicht verabredet, dass ich nackt sein sollte!» schrie Kaiser Napoleon. «Ich zeige mich der Öffentlichkeit nur im bekleideten Zustand! Ich bin mein eigenes Geschöpf! Ich trete nur als ich höchstpersönlich auf! Ich bin der größte Schauspieler der Welt. Gestern noch kleiner Korporal. Heute ein Kaiser. Morgen noch mehr. Ich kann mich nicht unbekleidet in der Öffentlichkeit zeigen. Ich muss stets einen geschäftigen Eindruck machen, auch in Stein!»
«Genau», bekräftigte Canova. «Deshalb habe ich Euren Händen etwas zu tun gegeben: der rechten einen Reichsapfel, der linken einen Stab. Voilá! Aber macht weisen Gebrauch davon, mein Kaiser. Und überlasst alles übrige mir. Das Geschäft des Künstlers ist es, der Natur zu geben, was der Natur gebührt, und dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt.»
«Sorgt nur dafür, dass die Natur mittels der Kunst dem Kaiser ein Feigenblatt spendet», erwiderte Napoleon.
«Ich bin genau wie er», sagte ein Bourgeois, die Statue bewundernd. «Ich bin mein eigenes Geschöpf.»
«Nackt siehst du aus wie ein gichtkrankes Schwein», entgegnete seine Frau mit einem Grinsen, das alles andere als Bewunderung ausdrückte. «Du bist das Geschöpf von Soße, Käse und Kuchen. Gott im Himmel sei Dank, dass er die Feigenblätter schuf.»


 

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