Eine neue Schule für alle | |||
Die "individuelle Förderung" der Schüler in NRW gilt als Leitidee des neuen Schulgesetzes.
Anlässlich des ersten bildungspolitischen Symposiums in Essen am Samstag, dem 03.02.07,
sprach schule.wdr.de mit Andreas Schleicher von der OECD über Fehler im deutschen Bildungssystem.
Zur Person: Prof. Dr. Andreas Schleicher leitet die statistische Abteilung im Erziehungsdirektorat der OECD in Paris.
Er ist bei der OECD für die Durchführung der PISA-Studien verantwortlich.
Er hat sich darüber Gedanken gemacht,
warum Deutschland im internationalen PISA-Vergleich so schlecht abschneidet
und was uns beispielsweise skandinavische Länder voraus haben.
Andreas Schleicher ist Koordinator bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Er entwickelte das Programme for International Student Assessment (PISA).
schule.wdr.de: Herr Schleicher, was können wir bei der individuellen Förderung von anderen Ländern lernen?
Andreas Schleicher: Das Wichtigste: Es geht um eine andere Einstellung zu den Schülern. Lehrerinnen und Lehrer müssen davon ausgehen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben. Sie müssen die Verschiedenheit ihrer Schüler, ihre unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten, die Unterschiede in ihrem sozialen Umfeld konstruktiv aufnehmen.
schule.wdr.de: Aber man muss auch über die Voraussetzungen dafür sprechen. Und die scheinen in Deutschland nicht optimal zu sein.
Andreas Schleicher: Ja. Wir müssen uns überlegen, welche Bedingungen dafür nötig sind. Zunächst einmal geht es um den genauen Blick auf den einzelnen Schüler, die Schülerin. In Deutschland hat man individuelle Förderung im Sinne von "Jedem das seine" verstanden. Der eine kommt eben auf eine Schule mit niedrigeren Anforderungen, der andere mit höheren Anforderungen. Das ist einer der größten Fehler. Wir brauchen universell gültige Bildungsziele - für alle als Maßstab für die fortwährende Bewertung und Diagnose. Das geht auch ohne Noten, wie wir in den nordischen Ländern sehen.
schule.wdr.de: Werden in diesen Ländern besondere Techniken angewandt, um einzelne Kinder besser zu fördern?
Andreas Schleicher: Es ist ein Missverständnis zu glauben, es käme auf pädagogische Tricks an, mit denen man dann im Klassenzimmer anders unterrichten kann. Wenn ich als Lehrer 20 Kinder in der Klasse habe, die ich 45 Minuten unterrichte, dann wären das gerade zwei Minuten für jeden Schüler. Es kann nicht funktionieren, dass ich mich als Lehrer jedem Einzelnen in jeder Stunde zuwende. Individuelle Förderung heißt, eine Vielfalt von Lern- und Unterrichtsformen zuzulassen, die die Schüler verschieden ansprechen. Ein japanischer Lehrer zum Beispiel versteht es, 50 Kinder in der Klasse individuell zu fördern. Er fängt etwa mit einem mathematischen Problem an, das kein Schüler lösen kann. Dann arbeiten sich die Schüler von verschiedenen Seiten heran, das ist eine Form von individueller Förderung, bei der die Verantwortung für das Lernen den Schülern übertragen wird. Jeder muss lernen, seine eigenen Ziele zu verfolgen, er muss sich selbst im Blick haben. Man kann nicht in der Schule alles in die Schüler hineintrichtern und glauben, dann haben sie genug gelernt. Wenn Schüler nicht diese Motivation und die Fähigkeit erlernen, selber zu lernen, dann haben sie in unserer Gesellschaft keine Chance.
schule.wdr.de: Wenn Schüler und Lehrer Lektion für Lektion im Lehrplan oder Lehrbuch quasi im Gleichschritt abarbeiten, funktioniert das also nicht?
Andreas Schleicher: Genau. Man kann in einem modernen Bildungssystem nicht mehr mit standardisierten Lehrplänen arbeiten, sondern man muss es in die Verantwortung des Lehrers geben, den Lehrplan individuell für den Schüler festzulegen. Das ist heute schon in England und Schweden selbstverständlich.
schule.wdr.de: Dafür müsste sich aber auch im Schulsystem einiges ändern...
Andreas Schleicher: Individuelle Förderung erfordert ein radikales Umdenken in der Organisation von Schule. Die Schulen müssen Verantwortung für die Lernergebnisse übernehmen, und sie nicht abwälzen auf die Schüler, die sie dann auf andere Schulformen schicken, wenn sie nicht die geforderte Leistung bringen. Individuelle Förderung heißt Umgang mit Verschiedenheit.
schule.wdr.de: Was würde das jetzt konkret heißen? Dass etwa Gymnasien und Realschulen Schüler nicht einfach auf andere Schulen schicken dürfen?
Andreas Schleicher: Ich glaube, das wäre ein Teil davon, dass Schulen Verantwortung übernehmen. Das Sitzenbleiben ist ein anderes Thema. Ein Jahr Wiederholung kostet die Gesellschaft zwischen 15.000 und 18.000 Euro. Und es bringt weder dem Einzelnen noch der Schule etwas. Dagegen könnte eine Schule mit 15 000 Euro sehr viel tun, um einen Schüler wirklich individuell zu fördern! Es mangelt also gar nicht unbedingt am Geld, sondern es sind diese Organisationsformen, die dazu führen, dass Verantwortung abgewälzt wird. In anderen Ländern, eben in Skandinavien zum Beispiel, gibt es das Sitzenbleiben nicht, da sind die Schulen gezwungen, mehr Verantwortung für ihre Schüler zu übernehmen. Und schließlich sollte ein Blick in andere Länder zeigen, dass man sich in Deutschland nicht zu sehr verzettelt und zu viele konkurrierende Angebote schafft. Der werden die Kindergärten im Sozialministerium geführt, die Schulen im Bildungsministerium, dann gibt es noch die Jugendhilfe. Dabei erwarten Eltern heute zu recht von Schulen, dass sie mehr sind als Lernanstalten. Sie müssen zentrale Orte der Gesellschaft werden.
Autor: Karl-Heinz Heinemann, 05.02.2007
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