DEUTSCH Legasthenie |
aus: I. Naegele, "Schulversagen in Lesen und Rechtschreiben", Beltz Verlag, Weinheim, 1991, S. 73-77
Die Modelle für die Entwicklung des Schreiben- und Lesenlernens
Entwicklungsmodell des Schreibenlernens
Beim Schreibenlernen lassen sich folgende Stufen nachweisen.
Diese Stufen zeigen sich, wenn Kinder ihnen unbekannte Wörter schreiben.
Stufe 0: Kritzelstufe
Schon dreijährige Kinder beginnen, das Schreiben von Erwachsenen nachzuahmen. Schreiben ist für sie Nachvollziehen der Schreibbewegung und Hinterlassen von Spuren auf Papier, meist ohne Einsicht, dass diese Spuren kommunikative Bedeutung haben.
Stufe 1: Pseudo-Wörter
Die Kinder haben begriffen, dass Schreiben etwas mit Buchstaben zu tun hat.
Sie schreiben einzelne Buchstaben (meist Großantiqua) oder malen buchstabenähnliche Zeichen,
aber ohne jeglichen Bezug zur Lautung der Wörter. Nach drei Monaten Schulunterricht wurde der Satz:
»Ich bin ein Junge / ein Mädchen« wie nebenstehend verschriftlicht
Stufe 2: Skelettartige Schreibungen
Die wichtigsten Laute werden nun wiedergegeben, häufig wird auch zumindest jede Silbe durch wenigstens einen Buchstaben markiert: FST (Faust), MS (Maus), VOG (Vogel). Auf dem Weg zur nächsten Stufe sind Kinder, die Übergangskonsonanten auslassen: GAS (Gans), flik (flink), keis (Kreis).
Stufe 3: Schreiben nach dem Prinzip »Schreibe wie du sprichst«
Die Kinder orientieren sich dabei vorwiegend an ihrer eigenen Artikulation, d.h. an ihrer Umgangssprache. Sie sprechen Wörter langsam vor sich her und notieren dabei die bei der Aussprache auftauchenden Laute, z.B. »aien« oder »aein« für "ein", »ont« für "und". Durch das gedehnte Artikulieren entstehen auch künstlich andersartige Laute: »esch« statt "ich", »ben« statt "bin". Gelegentlich werden Übergangskonsonanten ausgelassen: »ot« oder »ut« statt "und".
Der »ch«-Laut wird von Kindern häufig als »r« wiedergegeben.
Auf dieser Stufe gibt es noch Kinder, die keine oder nur gelegentlich Lücken zwischen den Wörtern lassen.
Stufe 4: Erste Verwendung orthographischer Muster
Kinder erkennen, dass es Schreibweisen gibt, die vom Lautlichen abweichen, z.B. Vater. Auf dieser Stufe entstehen viele Fehler dadurch, dass Kinder fälschlich orthographische Regelungen dort anwenden, wo sie nicht gefordert sind. Wir sprechen dann von »Übergeneralisierungen«, z.B. »er vragt« (fragt), »mier« (mir), »Oper« (Opa). Manche Kinder fangen auch an, alle Wörter mit Dehnungs-h zu schreiben.
Stufe 5: Übergang zur entwickelten Rechtschreibfähigkeit
Vollständige, richtige orthographische Wiedergabe von Wörtern.
Entwicklungsstufen beim Lesenlernen
Auch beim Lesen lassen sich solche Entwicklungsstufen beobachten:
Stufe 1: »Als-ob-lesen«
Kinder ahmen die äußerlich sichtbaren Verhaltensweisen geübter Leser nach und tun so, als ob sie lesen. Sie halten sich ein Buch (manchmal verkehrt herum) vor die Nase, murmeln vor sich hin oder wiederholen bzw. erfinden Geschichten und sprechen mit unnatürlicher Betonung.
Stufe 2: »naiv-ganzheitliches« Lesen
Die Kinder haben noch keine Einsicht in die Buchstaben-Laut-Beziehung und erraten Wörter, wobei sie sich an einzelnen Buchstaben, gelegentlich auch Einzelheiten von Buchstaben, orientieren (Coca-Cola). Fragt man Kinder dieser Stufe, woran sie ein Wort erkannt haben, erhält man höchst eigenartige Antworten. Jochen erkennt seinen in Schreibschrift geschriebenen Namen »an dem Regenwurm«, d.h. dem Häkchen des J. Ute erkennt das ebenfalls in Schreibschrift geschriebene Wort "Maus" an den "Mauseöhrchen" des M. Nur selten können Kinder dieser Stufe den Buchstaben einem Lautwert zuordnen.
Stufe 3: Benennen von Lautelementen
Die Kinder haben ansatzweise erkannt, dass Buchstaben Laute darstellen und erraten Wörter häufig aufgrund des Anfangsbuchstabens (»Telefon« statt »Toilette«).
Stufe 4: buchstabenweises Erlesen
Das Kind kennt inzwischen die meisten Buchstaben und deren Laute und versucht nun, jedes Wort buchstabenweise zu lesen. Vielen Kindern gelingt dabei aber noch nicht die Bedeutungsentschlüsselung. So liest Katja: »Gar-ten«, erkennt aber das Wort nicht.
Stufe 5: fortgeschrittenes Erlesen: Nutzen größerer Einheiten
Das Kind lernt allmählich, größere Verarbeitungseinheiten als den Einzelbuchstaben zu verwenden. Es erkennt mehrgliedrige Schriftzeichen und beginnt, Silben zu nutzen (»Spa-zier-gang«).
Stufe 6: entfaltete Lesefähigkeit
Das Kind gelangt zu flüssigem Lesen und zur Sinnentnahme.
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