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zum Begriff Epochen in der Literaturgeschichte

Verstehen und Gestalten, Oberstufe, Band 1, Literatur, Oldenbourg Verlag, München, 1997, S. 464 f, 471 ff:

Als Goethe seine Jugendgedichte in die erste Gesamtausgabe seiner Werke (1787-1790) aufnahm, überarbeitete er sie sprachlich um allzudeutliche Spuren des Stils ihrer Entstehungszeit zu tilgen. Er befand sich auf dem Weg in eine neue Periode seiner geistigen und künstlerischen Entwicklung, die man später als "Weimarer Klassik" bezeichnet hat, und stand seiner eigenen Sturm-und-Drang-Phase, in der er berühmt geworden war, bereits distanziert gegenüber. Auch wenn Goethe nicht die späteren Epochenbegriffe verwendete, sah er seine eigenen Werke und die seiner Zeitgenossen im Kontext literarischer Strömungen, Richtungen und Gruppierungen, die sich im Hinblick auf Dichtungsauffassung, Stoffwahl, Formensprache u.a. unterschieden. Goethe und seine Zeitgenossen hatten damit bereits ein ausgeprägtes Epochenbewusstsein und sie sahen den literarischen Stilwandel als notwendige Folge gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen.

Zur zentralen Kategorie der Einordnung literarischer Werke und der Ordnung des Überlieferten wurde der Begriff der Epoche allerdings erst, als man im 19. Jahrhundert den Versuch unternahm, die literarische Entwicklung als Geschichte der geistigen und kulturellen Entfaltung einer Nation darzustellen: Geprägt vom Fortschrittsdenken des bürgerlichen Liberalismus und der Hoffnung auf einen Nationalstaat, konstruierten die Literaturgeschichtsschreiber eine lineare Entwicklung, die in verschiedenen Perioden bis zum vorläufigen Gipfel und Höhepunkt der deutschen "Klassik" hinaufführte. Was die Nation auf dem Gebiet der Literatur bereits erreicht hatte, sollte nach Auffassung von Gervinus, dem Begründer einer nationalen Literaturgeschichtsschreibung, ein Ansporn für die Weiterentwicklung im Politischen sein: die Schaffung eines liberalen und demokratischen Nationalstaats.

Mit der Enttäuschung liberaler Hoffnungen nach 1870 und dem Aufschwung des Deutschen Reiches zur Industrienation wurde diese politische Zielsetzung der Literaturgeschichtsschreibung zunehmend preisgegeben. In der vielgelesenen und einflussreichen Literaturgeschichte von Wilhelm Scberer war die Darstellung der großen literarischen Vergangenheit als kulturelles Aushängeschild des Deutschen Reiches verbunden mit der neuen Methode, nach dem, Vorbild der Naturwissenschaften auch im geistigen Leben nach Gesetzen der Entwicklung zu suchen. Neben die Darstellung der Epochen der Nationalliteratur trat nun die Erforschung der Entstehung der Werke aus dem von den Dichtern "Ererbten, Erlernten und Erlebten". Das Interesse der Literaturwissenschaft verlagerte sich zunehmend von der Entwicklung der Nationalliteratur auf die Entwicklung der großen Dichter, vor allem Goethes.

Mit dem geistigen Krisenbewusstsein um die Jahrhundertwende war auch eine Skepsis gegenüber einer linearen, fortschreitenden Entwicklung des literarischen, kulturellen und politischen Lebens verbunden. Der Blick richtete sich nun mehr auf einzelne Epochen, die man als geistige, kulturelle oder auch weltanschauliche Einheiten auffasste. Im Gegensatz dazu sah man seit Mitte der 60er-Jahre die Literatur im Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklungen und untersuchte deshalb auch die Epochen als Erscheinungsformen ökonomischer, politischer und sozialer Entwicklungen. Die früheren Vorstellungen vom Gegensatz zwischen der "Verstandeskultur" der Aufklärung und der "Gefühlskultur" des Sturm und Drang wurden für eine neue die man als geistige, kulturelle oder auch weltanschauliche Einheiten auffasste. Im Gegensatz dazu sah man seit Mitte der 60er-Jahre die Literatur im Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklungen und untersuchte deshalb auch die Epochen als Erscheinungsformen ökonomischer, politischer und sozialer Entwicklungen. Die früheren Vorstellungen vom Gegensatz zwischen der "Verstandeskultur" der Aufklärung und der "Gefühlskultur" des Sturm und Drang wurden für eine neue sozialgeschichtliche Literaturbetrachtung fragwürdig, da man diese "Epochen" nun als Erscheinungsformen einer großen Entwicklung verstand: der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert.

Trotz aller Problematisierung hat die neuere Literaturwissenschaft an einer Epochengliederung der Literaturgeschichte festgehalten. Epochen sind für sie aus geistigen "Wirklichkeiten" zu Arbeitsbegriffen geworden, die für eine Periodisierung geschichtlicher Entwicklung und für die Einordnung der einzelnen Werke in größere Zusammenhänge notwendig sind. Beim Umgang mit tradierten Epochenbegriffen sollte aber nicht vergessen werden, dass die Entstehung und Verwendung solcher Begriffe einem geschichtlichen Wandel unterworfen ist.

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