netSCHOOL DEUTSCH Literaturgeschichte Epochenproblem
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Thomas Cramer (Hg.): Literatur und Sprache im historischen Prozess, Band 1. Tübingen 1983:

KARL OTTO CONRADY:
Von der Verführung durch vertraute Epochenbegriffe (1983)

Es muss zu einem Urbedürfnis des Menschen, zumal des Wissenschaftlers gehören, ungeordnete Vielfalt zu ordnen und lange zeitliche Abläufe zu gliedern. Anders ist die hingebungsvolle Mühe nicht zu begreifen, die Literaturwissenschaftler aufwenden um Epochen aufzubauen. Und obgleich längst jeder noch so sorgfältig ausgeführten Konzeption einer Epoche mit triftigen Argumenten widersprochen werden kann, lassen wir von dem geistvoll-nutzlosen Spiel nicht ab. Als vor Jahrzehnten dem Epochenbegriff Barock der Prozess gemacht wurde, suchte Erich Auerbachl einen Vergleich zu erreichen. Mit diesem Begriff verhalte es sich wie mit allen Epochen- und allgemeinen Stilbegriffen: Wir haben sie nötig um uns verständlich zu machen und wissen zugleich, dass sie nie ganz passen. Der Wert von Begriffen wie Klassik, Realismus, Symbolismus usw. bestehe darin, "dass sie im Leser oder Hörer eine Reihe von Vorstellungen hervorrufen, die es ihm erleichtern zu verstehen, was im jeweiligen Zusammenhang gemeint ist. Exakt sind sie nicht". Unschwer zu erkennen, dass Auerbachs Überlegung eine Hilfsargumentation in prekärer Lage ist. Sieht man schärfer auf das hin, was Epochenproblematik genannt werden kann, erweist es sich als im Wortsinn heillos. Kann es denn einen Sinn haben, wenn man von einem Zusammenhang der geistigen und künstlerischen Phänomene einer historischen Zeitspanne überzeugt ist, die Dichtung von zirka 1620 bis 1690 mit dem Etikett Barock zu versehen und die nämliche Bezeichnung ungerührt der Musik und Kunst des nächsten Jahrhunderts ebenfalls zu verleihen? Da stimmt nichts zusammen. 1740, als Gottscheds "Deutsche Schaubühne" - zehn Jahre nach der "Critischen Dichtkunst" - zu erscheinen beginnt, veröffentlicht Händel seine Concerti grossi op.6; gleichzeitig mit Bachs "Kunst der Fuge" entsteht Lessings "Freigeist" und erst von den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts an wird Balthasar Neumanns meisterhafte "Barock"-schöpfung Vierzehnheiligen erbaut. Andreas Gryphius ist achtzig Jahre zuvor gestorben. Und auf die sog. allgemeine Geschichte jener Zeit habe ich noch gar keinen Blick geworfen.

Sehen wir einen Augenblick zu, wie ein Historiker mit dem Epochenproblem ins Reine zu kommen sucht. Peter Berglar hat am Ende eines Aufsatzes über den "Weg in das Zeitalter Goethes" über den Begriff "Zeitalter" nachgedacht. Er werde auf jeglichen Aspekt geschichtlicher Gestaltung" angewendet, in religions-, geistes-, sozial-, wirtschaftsgeschichtlicher und politischer Hinsicht. So spreche man etwa vom Zeitalter der cluniazensischen Reform, des Humanismus, des Zunftwesens, der Französischen Revolution. Ein "großer subjektiver Ermessensspielraum" zeige sich bei der Wahl der Nomenklaturen und der ihnen zugelegten Bedeutung. Auch mit Personen werde der Zeitalter-Begriff, "und zwar in einer verwirrenden Vielfalt", in Verbindung gebracht, sodass vom "Zeitalter Karls des Großen" oder Shakespeares oder Luthers oder eben Goethes die Rede sei. "Alle solche Aussagen hängen von der Wahl des leitenden Gesichtspunktes ab, unter dem sie getan werden. Daher finden sich für ein und denselben Zeitraum oft unterschiedliche, ja gegensätzliche Zeitalter-Namen."

Was Peter Berglar hier ausführt, ist alles plausibel. Nur: Was haben Epochenbezeichnungen für einen Sinn, wenn für denselben Zeitraum sogar gegensätzliche Zeitalter-Namen in Umlauf gebracht werden? Berglar verschweigt denn auch nicht, dass der Namengebung eines Zeitalters "das Fragwürdig-Schillernde des Subjektiven" anhafte, "vor allem auch des Subjektiven im Gewande der Fantasie".

Offensichtlich bezeichnen Epochenbegriffe etwas, was es so in der Realität überhaupt nicht gibt. Sie sind nachträglich gestanzte Spielmarken kluger Konstrukteure. Epochenbezeichnungen, die mit qualifizierenden Bedeutungen belastet sind (die wir ihnen auch nicht austreiben können), können der realen Fülle und Vielgestaltigkeit des im betreffenden Zeitraum Hervorgebrachten nicht gerecht werden. Immer herrscht die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, der eine Epochenbezeichnung nicht entspricht. Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik, Romantik: die Namen erwecken die Illusion, als gäbe es tatsächlich diese Epochen, zudem noch im genannten Gänsemarsch. Ein flüchtiger Blick auf die neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts kann uns belehren, dass kein Epochenname das Verschiedene umgreifen kann. Was ist da nicht alles aufeinander geschichtet! Sulzers ästhetische Vorstellungen durchaus noch wirksam; Gottfried August Bürger bis 1794 noch dabei (wo soll er eigentlich untergebracht werden?); was "Spätaufklärung" genannt wird, in schönster, durchaus vielfarbiger Blüte (und gar kein Grund es von anderer Warte aus hochmütig zu verachten); Jakobiner und Liberale schreiben und dichten; Goethe und Schiller mit ihren Bemühungen ums sog. Klassische, sehr begrenzt in ihrer damaligen Wirkung, die Schlegels, Novalis, Tieck, Wackenroder, Bonaventura, August Vulpius (der mit seinem "Rinaldo Rinaldini" wurde gelesen), alles gleichzeitig beieinander; [ ... ] Und dass wir die "großen Drei" (Jean Paul, Hölderlin, Kleist) unter keinem Epochendach unterbringen können, demonstriert seit langem jede Literaturgeschichte.

Öffnet eigentlich die Bemühung um Epochenbestimmungen besser begehbare Wege zu den einzelnen Werken, die der Leser dann gern beschreitet? Geht von Epochengliederungen und den Diskussionen über sie Motivation für den Leser aus? Die Frage stellen heißt, sie nicht einfach bejahen zu können. Wenn in bildungspolitischen Erklärungen vom Deutschunterricht gefordert wird, er müsse endlich wieder (wie es heißt) den Schülern die Kenntnis etwa der deutschen Klassik und der anderen wichtigen Epochen der Geschichte der deutschen Literatur beibringen, dann müsste zugleich ernsthaft erwogen werden, wozu solche Kenntnis gut ist, welche Einsichten sie fördert oder vielleicht verstellt und ob sie die Freude am Lesen (für uns etwas allzu Selbstverständliches), die Motivation sich auf Fernes und Fremdes einzulassen verstärkt oder vermindert. Der durchs Land hallende Ruf "Es muss mehr gelernt (und gelesen) werden" hat seine Gründe und seine Berechtigung. Aber wir dürfen uns die (immer auch selbstkritischen) Fragen nicht abhandeln lassen: Was ist der Sinn des geforderten Lernens? Welche Interessen und Bedürfnisse werden damit befriedigt? (Dass zwischen Fachstudenten der Germanistik und Schülern, die alle am Literaturunterricht teilzunehmen haben, unterschieden werden muss, versteht sich von selbst.)

Um auf unsere Epochen zurückzukommen: Wenn die geläufigen Kennmarken schon nicht durch schlichte Zahlen ersetzt werden können (damit kein Text von vornherein in einem bestimmten Fach abgelegt wird), müsste die Beschäftigung mit ihnen nicht tradierbares Wissen vermitteln wollen, sondern die Implikationen und Konsequenzen aufzuspüren suchen, die mit Herausbildung, Durchsetzung und Gebrauch der Epochennamen verbunden sind.

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