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aus: Walter Killy, "Literaturlexikon", S.174 f
Volker Braun
* 7. 5. 1939 Dresden. - Lyriker, Dramatiker, Prosaautor, Dramaturg.
»Keiner schreibt so aus der Mitte des Landes heraus, aus ihrem unaufgehobenen Widerspruch«, heißt es in Fritz Rudolf Fries' Laudatio auf B. anlässlich der Verleihung des
Heinrich-Mann-Preises der Akademie der Künste der DDR im Jahr 1980. Als geschickter Stratege im Literaturkampf hat es B. immer wieder verstanden, in seinen Dramen u. Romanen polit. Tabus gegen den Widerstand der Literaturbürokratie zu gestalten. Die Publikationsgeschichte seines Werks war deshalb häufig auch eine Geschichte von Konflikten. B. publizierte in Ost u. West, wo er jeweils mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Während viele DDR-Autoren seiner Generation, darunter Freunde wie Bernd Jentzsch, Reiner Kunze u. Sarah Kirsch, politisch resignierten u. nach Westdeutschland zogen, blieb B. trotz starker polit. Restriktionen im Land. Als einer der Initiatoren der Petition zugunsten Wolf Biermanns musste er 1976 aus dem Vorstand der Berliner Sektion des DDR-Schriftstellerverbands ausscheiden.
B. gehört zu jener Generation, die von den Nachkriegs- u. Aufbaujahren geprägt wurde. Nach dem Abitur 1957 arbeitete er zunächst mehrere Jahre im Tagebau u. als Tiefbauarbeiter im Kombinat »Schwarze Pumpe«, bevor er das Philosophiestudium in Leipzig aufnehmen konnte. Seine frühen Gedichte
(Provokation für mich. Halle 1965) werden von Revolutionspathos u. Optimismus getragen: »Der Hoffnung / Später Nachfahr: Die Zukunft!«. Typisch für den Band sind Sprechgedichte in unregelmäßigen, freien Rhythmen, verpflichtet dem Vorbild Majakowskij; in anderen, dialektisch argumentierenden Gedichten ist
der Einfluss Brechts unverkennbar. In späteren Auflagen hat B. nicht nur die Anordnung u. Gedichtauswahl wesentlich verändert, sondern auch einzelne Gedichte revidiert; dies gilt auch für andere Sammlungen, wobei obendrein Original- u. westdeutsche Lizenzausgaben oft Unterschiede aufweisen.
Frei von bloßen Deklamationen ist der Band Gegen die symmetrische Welt (Halle u. Ffm. 1974), dessen programmat. Titel auf Hölderlin anspielt. Hervorzuheben sind Formbewusstsein, Gestaltungsweise u. Traditionsbezug der Gedichte, in denen sich Kritik an den bestehenden Zuständen artikuliert, schwankend zwischen Enttäuschung, Skepsis u. zorniger Auflehnung. In den Lyriksammlungen
Training des aufrechten Ganges (Halle 1979) u. Langsamer knirschender Morgen
(Ffm. 1987) zeigt sich, dass für B. die Gewissheiten von einst erschüttert sind; allgemeine Erstarrung wird illusionslos konstatiert, zerbrochene Hoffnung spiegelt sich in den Gedichtzeilen, wenn es heißt: »Aus dem Zusammen Frohe Zukunft/ Hang gerissen«, doch wird an der Utopie festgehalten.
Ein Beispiel für die Schwierigkeiten B.s mit der Literaturbürokratie seines Landes lieferte das Drama
Die Kipper. Es dauerte fast zehn Jahre u. bedurfte mehrerer Überarbeitungen, bis das Stück 197 2 in Leipzig uraufgeführt werden konnte. Es handelt vom »sozialistischen Abenteurer« Paul Bauch, der seine Kohlebrigade »aus Sport« zu Höchstleistungen antreibt, der sich jedoch wegen seines anarchist. Individualismus schließlich als Hemmnis der Produktion erweist. Trotz der von offiziellen Stellen verlangten Entschärfung u. der vom Autor vorgenommenen Akzentverlagerung zugunsten des Kollektivs bot das Theaterstück immer noch genügend Reibungsflächen: Held ist ein Arbeiter, dessen Vitalität mit der Planwirtschaft zwangsläufig in Konflikt gerät u. dem die DDR als »das langweiligste Land der Erde« erscheint. Mit wechselndem Erfolg versuchte B. in der Folgezeit, histor. Stoffen oder klassischen Entwürfen neue Fragestellungen abzugewinnen. Die geschlossene Fabel wurde aufgesprengt, eine offene Dramaturgie u. neuere Bühnenmittel wurden erprobt; die Theaterarbeiten der letzten Jahre standen unter dem Einfluss Heiner Müllers.
Erneut heftige Kontroversen verursachte der Hinze-Kunze-Roman (Halle u. Ffm. 1985). Kunze ist Funktionär, Hinze sein Fahrer; B. variierte satirisch das Herr-u.-Knecht-Motiv u. versetzte Diderots »Jacques der Fatalist« in die heutige DDR. Das ungleiche Paar liefert sich in
grotesken Szenen u. Dialogen einen anspielungsreichen Disput. Der für Druckgenehmigungen zuständige Minister Klaus Höpcke verteidigte das Buch noch vor Erscheinen: »Dank der komischen und satirischen Züge« seien gesellschaftl. Prozesse »diskutierbar gestaltet« (in: Die Weltbühne 33, 1985). Dagegen brachte Anneliese Löffler im »Neuen Deutschland«
(9.10.1985) einen rüden Verriss: Unter der Überschrift Wenn Inhalt und Form zur Farce gerinnen warf sie dem Autor Ungeduld vor, die ihn ins »Anarchistische« u. »in die absurdesten Konstruktionen« treibe. jenseits der kulturpolit. Brisanz erwies sich der Roman als Lesevergnügen, mit Raffinesse inszeniert u. virtuos geschrieben.
WEITERE WERKE: Vorläufiges. Ffm. 1966 (L.). - Kipper Paul Bauch (D.). i. Fassung in: Forum
18 (1966). 2. Fassung in: Dt. Theater der Gegenwart. Bd. 2, Ffm. 1967. 3. Fassung: Bln./Weimar 1972. 4. Fassung in: Stücke i. Ffm. 1975. 5. Fassung: ebd. Ffm. 2198 1. (3.-s. Fassung u. d. T. Die Kipper). - Kriegserklärung. Fotogramme. Halle 1967. Hans Faust (Neufassung: Hinze u. Kunze). Urauff. Weimar 1968 (D.). - Lenins Tod. Bühnenmanuskript 1970. SuF
1 (1988), S. 37-85. Urauff. Berliner Ensemble 1988 (D.). Wir u. nicht sie. Halle u. Ffm. 1970 (L.). - Freunde. Urauff. Lpz. 1972 (D.). - Das ungezwungene Leben Kasts. Drei Ber.e. Bln./Weimar u. Ffm. 1972. - Gedichte. Lpz. 1972. Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate. Lpz. 1975, Ffm. 1976. - Tinka. Urauff. Karl-Marx-Stadt 1976 (D.). Guevara oder Der Sonnenstaat. Urauff. Mannh. 1977 (D.). - Unvollendete Gesch. Ffm. 1977 (P.). - Im Querschnitt. Halle 1978 (L. u. a.). - Gedichte. Ffm. 1979. -
Simplex Deutsch. Urauff. Bln./DDR 198o (D.). - Stücke 2. Ffm. 1981. - Dmitri. Urauff. Karlsr. 1982 (D.). - Ber.e v. Hinze u. Kunze. Halle u. Ffm. 1983. - Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor. Urauff. Weimar 1986 (D.). - Die Obergangsgesellsch. Urauff. Bremen 1987 (D.). -Transit Europa. Urauff. Bln./DDR 1988 (D.). - Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetriebl. Demokratie. Ffm. 1988
(ESS.).
LITERATUR: V. B. In: Text + Kritik. Sonderbd. 1977. Jay Rossellini: V. B. Mchn. 1983. - Christine Cosentino/ Wolfgang Ertl: Zur Lyrik V. B.s. Königst./Taunus 1984 ' Ulrich Profitlich: V. B. Mchn. 1985. - Ian Wallace: V. B. Forschungsber. Amsterd. 1986 (mit Bibliogr.).
Michael Töteberg
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